Das Rücktrittsangebot von Reinhard Marx nehme ich persönlich. Der Noch-Erzbischof von München und Freising schreibt, dass ihn mehrere Fragen seit Jahren umtreiben. Er nennt ausdrücklich jene, die ich ihm 2018 auf der Pressekonferenz zur Missbrauchsstudie gestellt habe. Marx war damals Vorsitzender der Bischofskonferenz. Neben ihm saß sein Trierer Amtsbruder Stephan Ackermann.
(Frage im Video ab 1.40 Stunde)
Ob unter den mehr als 60 in Fulda versammelten Bischöfen einer oder zwei gesagt hatten, dass sie wegen persönlicher Schuld die Verantwortung des Amtes nicht mehr tragen könnten, wollte ich wissen. Marx sagte „Nein“, mehr nicht. (Siehe den Blogeintrag: Sag niemals ich!) Ackermann nickte zum Nein. Dieses letzte Wort der Konferenz hallte lange nach, in mir und – wie ich nun weiß – auch in Reinhard Marx.
Aus dem Nein ist ein Ja geworden. Der Kardinal spricht ein großes Mea Culpa. Er sagt ‚Ich‘, nicht bloß ‚Wir‘. Der Top-Mann im Gewissensbildungsbetrieb hat sich der Gewissensfrage gestellt.
Kardinal Marx hat dem Papst den Rücktritt von seinem Amt als Erzbischof von München angeboten. Er wolle „Mitverantwortung für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs“ in der katholischen Kirche übernehmen. Ein Schritt, dessen Wirkung noch nicht absehbar ist.
Erschütterung, in Beton gegossen
Die Szene von 2018 wurde oft im Fernsehen gezeigt, weil das Publikum eines schaurigen Wunders teilhaftig wurde: Erschütterung, in Beton gegossen. Maximale Verurteilungssprache bei minimaler persönlicher Verantwortung.
Warum ich mich an der Kirche abarbeiten müsse, fragten Glaubensfunktionäre damals zurück. Meine Antwort: Ich arbeitete mich nicht ab, ich arbeite. Machtkontrolle ist journalistisches Kerngeschäft, erst recht bei einer Institution, die sonst niemand kontrolliert. Wer zu sexualisierter Gewalt recherchiert, bekommt eine Ahnung davon, was Betroffenen an Lügen und Ignoranz, an juristischer und theologischer Brutalität entgegenschlägt. Dass ein Bischof nett wirkt, sagt nichts darüber aus, wie er sich gegenüber Betroffenen verhält.
Reinhard Marx zeigt sich nun selbstkritisch und selbstbewusst zugleich. Er bestimmt, wie er geht. Er bestimmt, was er gesteht. Sein Kölner Kollege hat den Zeitpunkt für einen respektablen Rücktritt verpasst. Aber Marx‘ Souveränität blamiert nicht allein Rainer Maria Woelki. Meine Frage war nicht nur eine Kardinalsfrage. Sie gilt allen, die eine Kirche erbaut haben, in der die Opfer sexueller Gewalt als Feinde oder Stimmungskiller gelten. Eine Kirche, deren Spitzenkräfte glaubten: Wir können machen, was wir wollen, unkontrolliert von Staat und Justiz. Rücktritte sind kein Selbstzweck. Ich hänge mir keine Bischofsmütze als Hirschgeweih an die Wand. Rücktritte nützen wenig, wenn sie ein Davonstehlen sind. Die nächste Frage in die ganze Runde lautet:
Was haben Sie getan und was unterlassen?
(Kommentar im DLF, 4. Juni 2021)
Liebe Frau Florin,
Sie schreiben über Bf. Marx: "Er bestimmt, wie er geht."
Nein, das tut er nicht. Er legt sein diesbezügliches Schicksal "gehorsam" in die Hände des Papstes. Ganz römisch-katholisch. Es ist genau dieses hierarchisch-zentralistische System, das einer Änderung bedarf. Der Austausch einzelner Amtsträger bewirkt wenig - selbst wenn diese Woelki heißen.