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Das Wie-immer-Privileg

Im Moment bin ich die einzige Wie-Immer-Person in der Familie. Wie immer verlasse ich morgens das Haus, nicht ganz so früh wie sonst. Die Autobahn zwischen Köln und Bonn, im Normalfall eine Ansammlung von Staus und angestauten Aggressionen, ist frei. Der Mann, Kirchenmusiker, hat keine Gottesdienste, keine Proben, keine Passions-und-Osterzeit-Konzertorganisationskorrespondenz. Die Kinder dürfen oder müssen nicht zur Schule.


Das Funkhaus im Kölner Süden ist gespenstisch leer, viele Kolleginnen und Kollegen arbeiten im Homeoffice. Konferenzen werden per Skype geführt. Nur das Nötigste wird persönlich besprochen, mit Zwei-Meter-Abstand. Die üblichen Arbeitsbedingungen erscheinen wie aus einer anderen Zeit: Schaltungen in andere Funkhäuser, mit dem Aufnahmegerät losziehen, Stimmen sammeln - das geht kaum noch. Heute morgen begann ein Beitrag damit, dass Kinder auf einem Berliner Platz beim Spielen laut einen Namen buchstabierten. Geht so etwas noch? Ich habe es in der Anmoderation erklärt.



Für Journalistinnen und Journalisten bleibt auch im Ausnahmezustand vieles wie immer. Die Nerven liegen blank, aber da draußen an den Radioapparaten darf das niemand hören. Egal, ob du eine halbe Minute vorher noch geheult hast: Wenn das Rotlicht angeht, wird die Stimme tiefer gelegt und sinnunterstützend in den Bauch geatmet.


Auch unsere Fragen haben sich kaum geändert: Was ist wichtig? Worüber müssen wir informieren? Was ist Alarmismus, was Aufklärung? Mit wem sprechen wir darüber?

Der Stress macht uns im Redaktionsalltag konzentrierter, vernünftiger, ruhiger. Für Firlefanz, Profilneurosen und Erregungssimulation ist keine Zeit. Im Politikalltag scheint das auch zu gelten. Profilneurotiker und Erregungssimulatoren sehen jetzt eben wie Profilneurotiker und Erregungssimulatoren aus.


Klopapier der gebildeten Stände


Was im Beruf gelingt, ist im Privaten schwieriger. Ich staune, wie schnell andere Eltern wenige Stunden nach der Schulschließung ihre Stundenpläne getwittert haben. Sechs Stunden Homeshooling, danach Mittagessen, dann Geigenspiel und Leibesübungen. Am Samstag sah ich Mütter, die stapelweise "Was-ist-Was?"-Bände aus einer Bücherei heimschleppten. Das Klopapier der gebildeten Stände, dachte ich. Um nicht missverstanden zu werden: Das ist ein Kompliment für die Buchreihe.


Bei uns ruckelt der Familienalltag so wie zu meiner Schulzeit der Videowagen. Den schob der Religionslehrer kurz vor den Ferien feierlich ins Klassenzimmer. Damit der Film beginnen konnte, musste erst noch der Leiter der Informatik-AG herbeieilen und die Kabel umstecken. Auf Knopfdruck ging es nie los.


Die Tochter macht dieses Jahr eigentlich Abi; am vergangenen Freitag war, ohne dass sie es vorher wusste, ihr letzter normaler Schultag. Das sei nicht nice, aber auch nicht schlimm, sagte sie. Der Sohn freute sich zur selben Zeit darüber, dass die Lateinarbeit ausfallen wird. Aber auch ihnen wird zunehmend komisch. Das hat nicht nur mit dem digitalen Durcheinander namens elearning zu tun. Wir sind den Pubertierenden als Eltern oft peinlich, aber jetzt brauchen sie uns. Ohne dass ich wüsste, was sie genau brauchen, vermute ich: mehr als Stundenpläne. Sie spüren trotz des Datenstroms die Unterbrechung.


Meine Mutter berichtet am Telefon, dass ihr drei jüngere Frauen aus dem Dorf Einkaufshilfe angeboten haben. Bisher ging sie jeden morgen um 7 Uhr in den Supermarkt. Sie singt im Kirchenchor, ist Mitglied eines Kegelclubs, trifft sich täglich mit Freundinnen. Ihre sozialen Netzwerke sind analog. Sie ist ein Kriegskind, keine Digital Native, weiß nicht einmal, was das Wort bedeutet, weil sie keinen Englischunterricht hatte. Sie hat schon einmal erlebt, dass die Schule ausfiel und Ausgangssperren verhängt wurden. "Mit 84 bekomme ich keine Beatmungsmaske mehr", sagt sie. Sie braucht mehr als Einkaufshilfe. Wir telefonieren häufiger.


Der eucharistische Hungerschrei


Unsere Situation ist privilegiert. Noch ist niemand ernsthaft krank, das Gehalt wird weiter gezahlt, unsere Haus ist groß genug für Rückzugsecken gegen den Lagerkoller. Noch habe ich den Kopf frei dafür, mir - wie immer - auch die Kirchen anzuschauen. Wir haben darüber berichtet, wie liturgische Soli im Internet wirken. Wir werden mehr als bisher darüber berichten, was jetzt Seelsorge bedeutet - mit und ohne Religion.


Aufgefallen sind mir in dieser einen Woche diejenigen, die glauben, irgendjemanden hoheitlich von der Sonntagspflicht entbinden zu müssen. Die ihren Anspruch auf Stillung ihres eucharistischen Hungers laut herausschreien. Die sich als Zampano digitaler Realpräsenz inszenieren. Da gilt für mich in der Kirche wie im Journalismus: Für Firlefanz, Profilneurosen und Erregungssimulation ist keine Zeit. Die Frage: Was brauchst du? wird deutlich wichtiger als die Frage: Was will ich?


Apropos Profilneurose: Am Montag erscheint mein neues Buch. Es ist nicht gerade das Werk der Stunde. Aber es gibt nun weiß Gott Wichtigeres zu tun als zu bejammern, dass sich das versendet. Als ich mich so - wie immer - selbst betrüge, kommt die Pressemitteilung eines Verlages per Mail: Anselm Grüns neues Werk heißt "So überstehen wir die Quarantäne friedlich." DAS ist das Buch der Stunde, das "Was-ist-Was?" der Spiritualität. Ich habe es noch nicht gelesen, aber ich ahne: Viele werden ihr Immer-Grün brauchen, gerade im Ausnahmezustand.


Mit einer Mischung aus Faszination und Skepsis begleitet ich - als Journalistin wie als Katholikin - alle, die abgesehen von Krankenpflege, Kinderbetreuung und Nachbarschaftshilfe jetzt ganz genau wissen, was im Namen des Christentums zu tun ist und was die Kirchen tun müssen. Sie eilen herbei wie der Informatik-Experte damals vor der Reli-Stunde mit Video, allerdings ohne, dass sie jemand gerufen hätte.


Ich bin dankbar für die Kerzen in den Fenstern. Für den Trompeter, der von einer Kölner Innenstadtkirche "In unserem Veedel" spielt, für den Jungen mit der Oboe auf einem Balkon in Hannover. Für Igor Levits Wohnzimmerkonzerte auf Twitter. Sie alle übertönen die Unterbrechung nicht. Sie suchen. Sie fragen. Sie tun, was sie können.







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