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Leev Marie oder Alles im Fluss

Aktualisiert: 20. Feb. 2020

„Et sitz jet spack“, sagt meine Mutter bei unserem morgendlichen Telefonat. Auf Hochdeutsch heißt das: „Das Kostüm, das ich gestern Nachmittag anprobiert habe, ist im Hüftbereich etwas zu eng. Aber ich habe jetzt nicht mehr genug Zeit, um einen Keil einzusetzen. Ich ziehe es trotzdem im Rosenmontagszug an.“



Meine Mutter ist gerade 84 Jahre geworden. In die Bütt geht sie nicht mehr, aber der Zoch muss sein. Von einem Wagen aus zu winken, das wäre ihr viel zu abgehoben. Seit mehr als 60 Jahren läuft sie mit ihrer Fußgruppe durchs rheinische Dorf. Dort ist sie weltberühmt.


"Ich bin kein Mann für eine Nacht"


Mein Mann, ein emeritierter Kinderkarnevalsprinz, und ich sind anders jeck. Vor mehr als zehn Jahren nahmen uns Freunde mit zur Stunksitzung. Wir kamen – Stau auf der A3 - zu spät. Als wir endlich da waren, stand die Sitzungspräsidentin auf einem der Tische und sang: „Schunkeln ist scheiße“. Dazu schunkelte der ganze Saal. Wir hakten uns unter und machen seitdem mit beim Tanz im Sitzen.


Die Party zu meinem 50. Geburtstag begann mit Chansons und endete mit dem Karnevalshit „Leev Marie, ich bin kein Mann für eine Nacht“. Wir sangen diese Hymne auf die maskuline Enthaltsamkeit so lange und so laut, dass die Nachbarn sich beschwerten.


Widersprüche? Ach was. Ein rheinischer Mensch hält mindestens so viel Spannung aus wie das Karnevalskostüm meiner Mutter.


Verwundet, verloren, verlogen


Ich fluche jeden Tag auf Köln. Hier wird Scheitern als Brauchtumspflege, Stillstand als Gemütlichkeit und Gleichgültigkeit als Toleranz verkauft. Zugleich liebe ich diese verwundete, verlogene und verlorene Stadt. Zwischen Selbstbesoffenheit und Minderwertigkeitskomplex fühle ich mich zu Hause. Im Dialekt lässt sich das Wort Ambiguitätstoleranz nicht aussprechen. Große Worte müssen auch nicht sein. Et ess e Jeföhl. Ein psychologischer Befund, der mit: "Es ist ein Gefühl" defizitär übersetzt wäre.


Vor einer Woche, in einer SWR-Diskussion zum Papstschreiben, bezeichnete sich mein Mitdiskutant Martin Lohmann als rheinisch-katholisch. Es sei gleichgültig, wer unter ihm Papst und Bischof sei. So definierte er diese Konfession, „überspitzt gesagt“, „jetzt zur Karnevalszeit“, schob er hinterher.


Rheinisch-katholisch – ein Wort aus einer fernen Zeit. Moral ist nur gut, wenn sie doppelt ist. Man muss die Messlatte so hoch hängen, dass man aufrecht darunter hindurch gehen kann. Über solche Sprüche können Angehörige dieser Konfession lachen. Ich fand die Weisheiten nie sonderlich witzig, fühlte mich dennoch lange rheinisch-katholisch.


Luther im Bötchen


Als Kinder spielten wir oft am Rhein, bis heute zieht es mich, wann immer ich Zeit habe, zu diesem Fluss. "Hier stehe ich, ich kann nicht anders", ist nicht die erste Assoziation, die er auslöst. Eher: "Hier stehe ich, aber ich könnte jetzt auch in ein Bötchen steigen." Der Strom verheißt Freiheit, gerade in der Provinz.


Meine Mutter fährt einmal im Jahr nach Banneux, zum belgischen Hot Spot der Marienverehrung. Wenn sie mehr Zeit im Tanzcafé verbracht hat als in der Messe und beim Kerzchen anzünden, war es aus ihrer Sicht eine zielführende Wallfahrt. "Leev Marie" nimmt ihr diese Kalkulation nicht übel, da ist sie sich sicher.

Franz tanzt nicht mal mehr im Sitzen


Die Mutter ist noch rheinisch-katholisch, ich bin es nicht mehr. Das Jeföhl ist fott. Willkür, die sich als Jovialität tarnt. Macht, die im Dienstmädchenkostum daherkommt. Männer, die das Kommando geben: „Marieche! Danz!“ Schon lange lässt sich diese Kirche nicht mehr schöntrinken. Da musste nicht erst der Amazonas in unsere Gefilde rüberschwappen, mit Tiberwasser vermischt.


Staunend lese ich die Versuche, Rettungsboote aufzublasen, geheime Botschaften hinter der Biegung des Flusses zu vermuten, auf ungehobene Schätze in der Tiefe zu hoffen. Aber da ist nix. Nicht am Amazonas, nicht am Rhein, nicht am Tiber. Franz tanzt nicht mal mehr im Sitzen.


Meine Ambiguitätstoleranz ist aufgebraucht. Frei nach meiner Mutter: „Et sitz zo spack“. Das Kostüm ist zu eng.


Ich bin zur Konfession melancholisch-katholisch konvertiert. Trotzdem: Kölle Alaaf! Wieverfastelovend alaaf! Weiberaufstand alaaf!

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