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Lob der Lauheit


Ein Wort wider die Polarisierung in Politik und Kirchen.

Kanzelrede, 24. Juni 2018, 18 Uhr, Kreuzkirche Bonn

Wenn es Krach gibt in den evangelisch-katholischen Beziehungen, dann streiten selten Protestanten mit Katholiken. Meistens streiten Katholiken mit Katholiken, und meistens fängt ein Katholik den Streit deshalb an, weil er der Ansicht ist, dass eigentlich Katholiken und Protestanten miteinander über Kreuz liegen müssten, weil sie so vieles voneinander trennt. Das Wesentliche. Das Wahre. Das Glaubensgut.

Es geht um Leben und Tod, sagte an Fronleichnam der Erzbischof von Köln. Er vollbringt gerade das Wunder, sogar in der rheinischen Tiefebene eine Art katholisches Alpenglühen zu entfachen.

Evangelisch oder katholisch, Oblate oder Hostie, wir oder die - in schlechten Western hieß es früher: „Geld oder Leben“. Die das fragten, inszenierten sich als Teufelskerle, setzten dem Gegenüber die Pistole auf die Brust.

Die Bibelstelle, die ich für diese Kanzelrede ausgesucht habe, schlägt einen Pistolero-Teufelskerl-Ton an. Wer brennt, wer sich richtig warm läuft, wer sich klar auf eine Seite schlägt, so scheint es zumindest, hat die Offenbarung des Johannes und damit Christus höchstselbst auf seiner Seite. Offenbarung 3 ist ist eines der sogenannten sieben Sendschreiben. Diese Schreiben richten sich an Gemeinden in Asien, diesen sieben Gemeinden stehen aber, so habe ich bei Leuten gelesen, die besser Bescheid wissen als ich, stellvertretend für die gesamte Kirche.

Einer Gemeinde namens Laodizea wird etwas aufgetragen, nein es wird eher gedroht. In der Lutherbibel klingt diese Drohung so.: „Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“

Katholiken mögen's heiß

In der katholischen Einheitsübersetzung klingt das anders. ("Einheit" meint nicht konfessionsübergreifend, gemeinsam Bibel lesen ist mindestens so schwierig wie gemeinsam Mahl feiern.) Einheitsübersetzung wird die Bibel für die deutschsprachigen katholischen Bistümer genannt. Dort steht bei Offenbarung 3,15: „Ich kenne deine Taten. Du bist weder kalt noch heiß: Wärest du doch kalt oder heiß! Daher weil du lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien.“

Kalt oder warm lautet also die Alternative für Protestantinnen und Protestanten, kalt oder heiß lautet die Alternative für die konfessionellen Mitbewerber.

Katholiken mögen’s heiß.

Das aktuelle Alpenglühen der Köln-Bonner Bucht, von dem ich vorhin sprach, nimmt am Ende der Bibel womöglich seinen Anfang. Eine klare Entscheidung, eine klare Unterscheidung, das ist offenbar die Voraussetzung dafür, lobend erwähnt zu werden am jüngsten Tag.

Trotz der evangelisch-katholischen Temperaturschwankungen zwischen warm und heiß: Was die Verachtung der Lauheit anbetrifft, ist ein beachtlicher Grad der Ökumene erreicht. In beiden Bibeln kommen die Lauen schlecht weg. In beiden Bibeln werden sie ausgespuckt. In beiden Bibeln taucht auch ein Wort auf, das mir wichtig erscheint für die Zeitdiagnose, die ich nun in dieser Kanzelrede stellen möchte: das Wort ODER.

Heiß ODER kalt? Warm ODER kalt?

Ich bin weder Bibelwissenschaftlerin noch Theologin, ich habe mir einiges über die Apokalypse des Johannes durchgelesen, über das rätselhafte Buch mit den sieben Siegeln, das es in die Umgangssprache geschafft hat. Mir sind all die ungelösten Fragen bekannt, etwa, wer zu wem spricht, ob das wirklich Christus selbst ist usw. Ich verrate Ihnen gleich: Ich kann es nicht klären. Mir ist nur aufgefallen, dass mir diese Bibelstelle oft von Leuten um die Ohren gehauen wird, die immer genau wissen, wo es langgeht.

Ich stelle Ihnen eine Deutung vor, meine Deutung und hoffe, keinen hermeneutischen Totalschaden anzurichten.

Mich reizen sperrige Bibelstellen. Nicht diejenigen, bei denen ich sofort nicke. Nicht diejenigen, die auf Kalender mit Blumenmotiven gedruckt werden, nach dem Motto: Auch aus dieser Blume lacht dir Jesus entgegen und wenn er weiter lachen soll, verzichte auf Glyphosat.

Ich habe mir diese Stelle aus der Offenbarung ausgesucht, weil sie mich zum Widerspruch reizt. Weil sie so gut in die Zeit passt mit ihrer Eindeutigkeit und doch quer steht. Provoziert fühle ich mich vom Wort ODER. Und von der Abwertung des Lauen. Was daran provoziert und inspiriert, daran möchte ich Sie gern teilhaben lassen.

Erst das Oder, dann das Lob des Lauen.

Die Alternative macht Karriere

An dieser Bibelstelle wird eine Alternative aufgemacht. Kalt oder heiß. Kalt oder warm. Du bist entweder das eine oder das andere, du kannst nicht beides sein. Kalt geht in Ordnung, heiß geht in Ordnung, lau ist verwerflich.

Das Wort Alternative hat eine beachtliche Karriere gemacht. In den 1980er Jahren gab es in der Hamburger Bürgerschaft die Grün Alternative Liste. Im Programm standen alternative Energien, ein alternativer Politikstil. Es war mehr als eine Partei, es war eine Lebenshaltung: Man ging auf Anti-Atomkraft-Demos, schrotete sein Müsli selbst und batikte wahlweise für den Frieden oder gegen das Waldsterben. Die ersten alternativen Abgeordneten im Deutschen Bundestag strickten und stillten, auch die Männer. Sie fuhren Rad statt Dienstwagen und tauschten ihre Volksvertreter alle zwei Jahre aus. Im Bundestag hieß das Rotationsprinzip. Die anderen Parteien lachten darüber.

Irgendwann verzichteten die Alternativen aufs Rotieren und blieben wie alle anderen vier Jahre lang sitzen. Im Gegenzug kauften sich die Nicht-Alternativen eine Getreidemühle fürs Frischkornmüsli und CDUler, die zu Studentenzeiten noch jeden Atomkraft-Nein-Danke-Sticker von der Uni-Klotür gekratzt hatten, beschlossen den Ausstieg aus der Kernenergie. Aus der Alternative wurde Common sense.

Wäre die bundesdeutsche Demokratie eine Maschine, dann wäre sie robust. Sie verarbeitet verschiedenste Rohstoffe, auch diejenigen, von denen es zunächst heißt, davon gehe sie kaputt. Sie lässt sich auch von alternativen Energien antreiben. Und sie bleibt auch heil, wenn eine Frau sie bedient, auch wenn jahrzehntelang das Gegenteil behauptet wurde.

Wahr ist, was wirkt

Zeitsprung: Eurokrise, Finanzkrise. Rettungsschirme wurden aufgespannt, Politiker jonglierten mit Summen, die die meisten von uns nicht als Zahl aufs Papier bringen können, weil wir den Überblick über die Nullen verlieren. Die Frau an der Maschine erklärte, das müsse man auch gar nicht verstehen, die Politik mit vielen Nullen sei alternativlos. Das ODER, die Frage: Wie konnte es anders gehen? verschwand für einen Moment aus der Politik.

Seit einigen Jahren ist wieder die Alternative los. In Gestalt einer Partei, die das Wort im Namen trägt. Diese Alternative verspricht nicht etwas Anderes, sie verspricht DAS Andere, den Gegenentwurf. Andere Parteien sind nicht nur Konkurrenten, sie sind Gegner, Feinde. Erkennbar am Vokabular: Systemparteien, Altparteien. Hier das Volk, dort die Volksverräter. Wie einst die alternativen Energien in fast alle Parteiprogramme eingezogen sind, so ist auch dieses Vokabular in den ganz normalen Politikbetrieb eingesickert.

Alternative hat auch noch in anderer Hinsicht eine neue Bedeutung bekommen: Am 20. Januar 2017 wurde Donald Trump ins Amt eingeführt, schon bald zeigten Luftaufnahmen von seiner Amtseinführungsfeier, dass diese deutlich spärlicher besucht war als die von Obama. Trumps Sprecher behauptete dennoch, sein Präsident habe die größte Menschenmasse versammelt, Trumps Beraterin Kellyanne Conway’s sagte in Talkshow, das sei nicht die Unwahrheit, das seien „Alternative Fakten“.

Dass Politiker sich Zahlen nach Bedarf zurechtbiegen, gehört zum Geschäft. Das Bemerkenswerte an „alternativen Fakten“ ist jedoch, dass es gar keine Rolle spielt, ob etwas stimmt oder nicht, ob man Belege beibringen kann oder nicht.

Wahr ist, was wirkt. „Mut zur Wahrheit“ reklamiert die Alternative für Deutschland.

Du hast das Thermometer manipuliert

Alternative heißt in dieser Hinsicht: Wenn du sagst, es ist heiß, werde ich sagen: Es ist kalt. Weil du es sagst und weil ich dich verachte. Es nützt auch nichts, dass du ein Thermometer dabei hast, das 35 Grad zeigt. Ich werde trotzdem sagen: Es ist kalt und ich werde behaupten: Du hast das Thermometer manipuliert.

Entweder - oder. Entweder Freund oder Feind. Entweder wir oder die. Entweder Du oder Ich.

Die Demokratie bundesdeutscher Bauart ist eine langsam arbeitende Maschine, sie ruckelt und klemmt, geht vor und zurück, am Ende eines solchen langen Arbeitsgang kommt nicht exakt das politische Produkt raus, das sich die einzelnen am Arbeitsprozess Beteiligten vorgestellt haben, aber doch eines, mit dem viele etwas anfangen können. Das ist die Sowohl-Als-Auch-Mechanik.

Neue Alternative dagegen arbeiten mit einer Entweder-Oder-Mechanik: Sie sagen: Die Maschine läuft wie geschmiert, wenn wir sie bedienen und nicht die. Sie drohen: Die Maschine funktioniert nicht, wenn die sie bedienen und nicht wir.

Diese Mechanik sehen Sie in Trumps Außenpolitik, da wird Europa zum Gegner und Nordkorea zum Freund. Sie sehen diese Mechanik derzeit in der deutschen Innenpolitik sehen, in der ein halber Punkt eines 63-Punkte-Plans zum Anlass eines Ultimatums werden kann. Der Masterplan ist eine Offenbarung voller Erlösungspotenzial und vor allem: Voller Geheimnisse, denn nur wenige kennen ihn. Wir stecken gerade in der Entweder-Oder-Falle: Merkel oder Seehofer, für Flüchtlinge oder dagegen, Pro Europa oder Contra. Die Maschine läuft gerade heiß und steht doch fast still.

Wer möchte schon ausgespuckt werden?

In der Politikwissenschaft nennt man diese Entweder-Oder-Mechanik Polarisierung. Auch das ist nicht neu. Die Wiederbewaffnung polarisierte Mitte der 1950er Jahre. Die Ostpolitik Willy Brandt Ende der 1960er. 1976 warb die CDU mit dem Slogan „Freiheit oder Sozialismus“. Das Oder gehört zum Wettbewerb.

Aber Populisten in Europa und in den USA kämpfen nicht einfach um Mehrheiten, um Popularität. Sie stellen die Systemfrage. Sie wollen nicht nur andere politische Produkte, sie wollen eine andere Maschine.

Das Oder ist verführerisch: die Klarheit, die Eindeutigkeit, die Kontrolle. Die Apocalypse, die Offenbarung des Johannes arbeitet mit meiner Angst: Wer möchte schon ausgespuckt werden? Ich möchte dazu gehören zu einer der beiden Gruppen, entweder zu den Heißen oder den Kalten. (Der bulgarisch-französische Universalgelehrte Tzevetan Todorov unterscheidet zwischen der Anerkennung durch Übereinkunft und der Anerkennung durch Unterscheidung.) Anerkennung bekommt man einerseits dadurch, etwas Besonderes zu sein, eine Leistung zu erbringen, die belobigt wird. Andererseits verschafft es Anerkennung, sich konform zu verhalten, nicht aufzufallen, in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein, dazu zu gehören zur Mehrheit.

Es tobt ein Kampf um Anerkennung, schreibt der evangelische Theologe Stefan Seidel in seinem Plädoyer für eine „Kultur der Anerkennung“. Das Problem: Die Anerkennung des Anderen als Gleichberechtigten, wird als Abwertung des „Eigenen“, was immer das auch sein mag, empfunden. Wenn Muslime hier Moscheen bauen, wertet das nicht das Christentum ab, auch wenn ich selbst nicht in die Kirche gehe? Wenn Homosexuelle heiraten dürfen, wertet das nicht meine Ehe ab? Solche Fragen zeugen von der Angst um die Abwertung des "Eigenen".

Derzeit werden Identitätsfragen stark ideologisiert: das Geschlecht, die Religion, die Nation, das Wir, das Andere, das Eigene, das Fremde. Identitätspolitik gibt das Versprechen: Du musst eigentlich nichts Großes leisten, du bist etwas Besseres, du hast mehr Machtansprüche, weil du zum Beispiel männlich, christlich, deutsch bist. Ängste bestimmen Identitätspolitik stärker als Verheißungen; Erfolge feiert, wer den Ängstlichen einen Schuldigen anbietet: „die“ Flüchtlinge, „die“ Merkel, „den“ Staatsfunk. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Weck den Horst in dir

Diesen Geist der Polarisierung können sie nicht nur in politischen Auseinandersetzungen ausmachen. Er weht auch in den Kirchen. Erkennbar an einem Bekenntniszwang – über das Credo hinaus: Bist du fürs Beten oder fürs Diskutieren? Sollen Predigten politisch sein oder fromm? Willst du die Volkskirche oder den Heiliger Rest?

Während die Mitte sich ausdünnt, bilden sich an den Rändern neue Allianzen: Rechtskatholiken und Evangelikale berühren sich im Kampf gegen den Islam und gegen das, was sie für Gender halten. Sie docken an populistische Bewegungen an, um die Kräfte für einen Kulturkampf zu bündeln. Der Jesuit und Papstvertraute Antonio Spadaro hat diese Allianzen treffend eine „Ökumene des Hasses“ genannt.

Die Pole der Polarisierung heißen nicht mehr katholisch und evangelisch, auch nicht christlich und muslimisch, rechts und links. Sie heißen autoritär und liberal. Eine liberale Katholikin verbindet mehr mit einem liberalen Protestanten als mit einer autoritären Katholikin. Und übrigens auch mehr mit einem liberalen Muslim.

Ich möchte nicht in einen Morgenandachtston fallen nach dem Motto: Steckt nicht auch ein kleines Trumpteufelchen in uns allen? Aber legen sie bitte kurz alle Gelassenheitsratgeber und die Filzsocken für den liturgischen Tanz beiseite und wecken Sie den Horst in sich.

Ich jedenfalls spüre die große Gereiztheit, die Polarisierung bei vielen Gelegenheiten: Am Konferenztisch, am Küchentisch, an der Festtafeln, sobald das Gespräch auf das Thema Flüchtlinge kommt. Der himmlische Richter müsste uns am jüngsten Tag zum Fressen gern haben, so heiß oder so kalt sind wir.

Der Herr badet gerne lau

Das Laue hat keinen guten Ruf.

Nicht in dieser Bibelstelle. Auch nicht an anderen Bibelstellen. Brannte nicht unser Herz?, fragen die Jünger in der Emmaus-Geschichte. Wer glaubt, muss brennen.

Das Laue hat auch in der Politik keinen guten Ruf. Der Herr Bundeskanzler badet gern lau, soll der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner 1973 über Willy Brandt gesagt haben, Journalisten kolportieren diesen Satz zumindest. Lau baden bedeutete: dem Amt nicht gewachsen sein. Die Kanzlerschaft Brandts endete bald.

Mich hat vor sieben Jahre sich eine Äußerung von Benedikt XVI. dazu bewogen, das Laue zu lieben. Er sagte 2011 auf seinem Deutschlandbesuch: „Der Schaden der Kirche kommt nicht von ihren Gegnern, sondern von den lauen Christen.“

Da dachte ich: Mein Gott, was bildet der sich eigentlich ein! Wer sind die lauen Christen? Das sind doch die, die sich durchwursteln, die Kompromisse eingehen, die nicht immer unverbeult durchkommen, die zweifeln und die daran zweifeln, dass Päpste und Bischöfe gute Wegweiser sind.

Ich hege eine gewisse Sentimentalität für die Volkskirche. Volkskirche im Sinne einer geistigen Weite, eines Sowohl als auch. Darin ist Platz für kühle Ästheten wie Joseph Ratzinger und heißblütige Missionsmanifestschreibern, für Friedrich Wilhelm Graf und Margot Käßmann, aber vor allem für vieles und viele dazwischen.

Ich weiß auch sieben Jahre später noch nicht, welchen Schaden die Lauen anrichten. Ich sehe aber, welchen Schaden die Heißen und die Kalten anrichten.

Diktatur des Relativismus

Der kühle Denker auf dem Papstthron hat einigen Schaden angerichtet. Er und seine übrigens auch seine protestantischen Verehrer geißeln unablässig die „Diktatur des Relativismus“, das könnte man in einigen Büchern zum Reformationsjubiläum nachlesen. Joseph Ratzinger meint damit keine Diktatur im politikwissenschaftlichen Sinne; mit rechten wie linken Diktaturen haben sich beide Kirchen ganz gut arrangiert. Nein, Diktatur des Relativismus meint Systeme, in denen es freie Wahlen gibt, in denen Mehrheitsentscheidungen zustande kommen, in denen Ergebnisse möglich sind, die einem als Papst nicht passen. Gemeint ist also die plurale Demokratie.

Heute setzen Rechtspopulisten Demokratie und Diktatur gleich, sie behaupten in einer „links-versifften Meinungsdiktatur“ zu leben. Sie sprechen von einer Herrschaft des Unrechts und rufen zum Widerstand. Eine Formulierung wie „Diktatur des Relativismus“ hat diesem Denken mit den Boden bereitet, nicht allein natürlich, so einflussreich sind Päpste dann doch nicht, aber eben auch.

Ich hätte mir von einem Papst, der die Lauen verdammt, mehr Lauheit gewünscht und von den lauen Christen mehr Widerspruch.

Lau heißt: Eine Demokratie Demokratie nennen, eine Diktatur Diktatur, eine Kritik als Kritik formulieren und nicht als Verdikt.

In Karlsruhe tagt nicht das jüngste Gericht

Lau heißt: Absolutsheitsansprüche relativeren. Jesus ist – Gott sei Dank - nicht Bundeskanzler und in Karlsruhe tagt nicht das Jüngste Gericht. Die Relativierung religiöser und weltanschaulicher Wahrheitsansprüche ist noch lange kein Relativismus, sie ist die Bedingung des Zusammenlebens. Mit Entweder-oder werde ich weder in einer Beziehung, in einer Ehe oder in der Familie klarkommen, erst recht nicht in einer Gesellschaft, allenfalls in einer Gemeinschaft.

Lau heißt: Prioritäten setzen. In der katholischen Dogmatik nennt man das Hierarchie der Wahrheiten. In politischen Gemeinwesen gibt es eine Hierarchie der Werte: Lauheit meint nicht Gleichgültigkeit. Es ist nicht alles gleich-gültig.

Lau heißt: sich die Kräfte klug einteilen, mit ganzer Kraft für die Würde, für die Freiheit, für die Gleichheit zu streiten und nicht zuzulassen, dass Zweitrangiges – Ordnung, Identität, Autorität - an die vorderste Stelle rücken.

Im Moment können diejenigen, die sich in Rage reden, gerade nicht für Würde, Freiheit, Gleichheit erwärmen. Diejenigen, die sich für Nicht-Lau halten, brennen für Sekundäres und urteilen kalt über Primäres, nämlich über Würde und Gleichheit von anderen. Es wird das Angstbild eines Kontrollverlustes gezeichnet, Deutschland müsse die Kontrolle zurückgewinnen über seine Grenzen, heißt es. Dabei geht die Kontrolle über das eigene Sprachzentrum verloren. Die sprachliche Enthemmung ist auch im Bürgertum eher Normal- als Ausnahmezustand. „Asytourismus, Invasoren, Flüchtlingswelle“ - das Kalte, Verächtliche fällt kaum noch auf. Lausein besteht schon darin, diese Wörter nicht zu benutzen.

Lau sein bedeutet, für gemischten Gefühle zu streiten, für das gemäßigt Temperierte, für das, was gerade von rechts, aber auch von links als langweilig und blutarm diffamiert wird. Diese mittlere Betriebstemperatur stellt sich nicht von selbst ein, sie entsteht aus der mühsamen Auseinandersetzung, aus der ernsthaften Suche nach einem Kompromiss.

Eine Politik, die statt dieser Mühe Harmonie und Wohlbehagen verspricht, zieht sich eine verwöhnte Wählerschaft heran. Wer sich nicht dauernd bestätigt und umsorgt fühlt, wähnt sich benachteiligt, zu kurz gekommen, angegriffen. Laue Politik macht keine Glücksversprechen.

Ein Lob der Lauheit ist schließlich auch ein Lob des Erwachsenwerdens, der Reife. Lausein heißt: das Terrain nicht den Hitzköpfen, den Dauerpubertierenden überlassen, die die Größe ihrer Atomknöpfe miteinander vergleichen wie pubertierende Jungs die Länge ihres primären Geschlechtsmerkmals.

Danke fürs Mitdenken

Was das für mich als Journalistin im Alltag bedeutet, noch dazu als Religionsjournalistin, möchte ich Ihnen noch kurz zum Abschluss sagen: Die Kollegin Carolin Emcke schrieb vor zwei Wochen in der Süddeutschen Zeitung einen scheinbar banalen Satz: Journalismus ist Arbeit. Wir haben in der Journalistenausbildung oft den Satz gehört: Der Journalist muss sich Mühe geben, nicht der Leser oder Hörer. Das ist jetzt wahrer denn je, denn bei allem, was Mühe macht, zieht das Publikum sofort weiter. Ich kann als Journalistin weder an das Erbarmen noch an das Pflichtgefühl des potenziellen Publikums appellieren.

Aber ich versuche zumindest eine Selbstverpflichtung einzuhalten. Auch die hat Caroline Emcke treffend formuliert, in Frageform. „Wie lassen sich Nachdenklichkeit und Zweifel zurückbringen ins Gespräch? Wie lassen sich jene komplexen Phänomene diskutieren, die sich einfachen Bildern und Urteilen entziehen? Wie lässt sich Desinformation und Lüge etwas entgegen setzen? Wie lässt sich Respekt vor menschlicher Würde kommunizieren?“

Ich sage am Ende meiner Sendung immer: Danke fürs Mitdenken. Das kann man albern finden, manchen finden es auch arrogant. Aber ich meine das tatsächlich ernst. Für mich heißt Journalismus, öffentlich-rechtlicher zumal: Zeit zum Nachdenken geben, Gesprächsräume öffnen, Differenzierung ermöglich, Stimmenvielfalt hörbar machen. Ich bin gelegentlich selbst die Interviewte, dann bekomme ich Fragen wie: Bist du für das Kopftuch oder dagegen? Für Kreuze in Schulen oder dagegen? Da ist wieder das Entweder-Oder. Ich sage immer öfter: Ich kann das so einfach nicht beantworten. Es gibt Gründe für ein Ja und für ein Nein, vor allem aber und ganz gleich wie die Debatte ausgeht:

Es geht eben nicht um Leben und Tod.

Kurz reden, lange zuhören

Im DLF-Programm haben wir seit einem Jahr eine Sendung namens Streitkultur, die ist vordergründig heiß und kalt. Wir stellen eine zugespitzte Frage, die von einem Streiter, einer Streiterin, mit Ja und vom Gegenüber mit Nein beantwortet wird. Eine Entweder-Oder-Mechanik geht trotzdem fehl. Die beiden müssen nämlich tatsächlich miteinander reden, sie müssen dem Gegenüber zuhören und darauf eingehen. Es entsteht ein Wettstreit der Argumente, es reicht nicht, nur Vorbereitetes abzulesen, für keinen Beteiligten. Am Ende fragen wir Moderatorinnen und Moderatorin immer: Über welches Argument ihres Gegenübers denken sie weiter nach? Aufschlussreicher als die Antwort selbst ist die Haltung, mit der sie gegeben wird. Manchmal wirklich nachdenklich, manchmal ignorant, manchmal gedankenlos. Die Sendung endet nicht in Versöhnung, aber sie verzichtet auf Verachtung. Und das ist schon viel.

Lauheit bedeutet sehr konkret im Radio: Zuhören. Kürzlich stand im Bonner General-Anzeiger im Wochenende-Teil zu Beruf und Karriere, dass für Führungskräfte Seminare besuchen können, in denen sie zuhören lernen. Es gab auch schon Seminare, in denen Hörsimulation ein Lernziel war. Beim Radio, mit der Uhr im Nacken und einem Fragenkatalog im Kopf, ist die Verführung groß, diesen Liste abzuarbeiten, unabhängig davon, was der oder die Interviewte antwortet. Aber so kommt kein gutes Gespräch zustande und auch kein gutes Interview zustande. So schwer es uns eitlen Menschen am Mikrofon fällt: Wer reden will, muss lange zuhören. Sage ich und rede 30 Minuten lang vor ihnen.

Tänzelnde Sprache

Lau sein heißt für mich ganz praktisch: sprachlich tänzeln, nicht aufstampfen, auftrumpen, auftrumpfen. Ich höre die Rufe nach Haltung! Achtung! Stillgestanden! Aber ich überhöre auch vieles. Ich kann mich nicht zu allem verhalten. Eine Haltung haben und sich dennoch Ironie, Selbstironie leisten – das meine ich mit tänzeln. Autoritäre Charaktere lachen nicht, sie lachen nur aus.

Und was die Religion anbetrifft: Ich bin keine katholische Journalistin, ich bin Journalistin, die auch katholisch ist. Als Katholikin halte ich den Wunsch nach einer pluralen Kirche offen. Die Kirchen sollten nicht enger werden, wenn sie kleiner werden. Ich misstraue jedem, der behauptet: Katholische Kirche ist nur da, wo Eucharistie ist. Nein. Sie sie auch da, Sie ist auch da, wo zwei oder drei – noch so ein Schlager meiner Jugend – in seinem Namen versammelt sind, ohne diesen Glauben wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Sie ist auch da, wo das Leben gefeiert wird mit all seinen Widersprüchen, seiner Schönheit und Verletzlichkeit. Sie ist auch da, wo die Frage „Wie kann ich helfen?“ von innen kommt und nicht aus dem Handbuch für erfolgreiche Servicekräfte.

Der EKD-Ratsvorsitzende und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz haben einander im Reformationsjahr demonstrativ untergehakt. Sie wirkten so unzertrennlich, dass ich schon dachte, es gebe zusätzlich zum Playmobil-Luther auch diese beiden zusammengeschweißt als Plastik-Doppelfigur zu kaufen.

Liebeserklärung an die ächzende Demokratiemaschine

Aber bei aller Ironie ist mir dieser Honey-Moon lieber als das aktuelle katholische Alpenglühen der Köln-Bonner-Bucht. Ökumene ist nicht nur ein kirchenpolitisches Projekt, sie ist eine Lebenseinstellung: Ja, die anderen sind anders, aber nicht minderwertig. „Ich bin froh, dass ich nicht evangelisch bin“ heißt ein zum Glück lustiges Lied, das die katholische Doppelmoral preist. Aber gerade die hippen, glühenden Missionskreise meinen das mit dem Nicht-Evangelisch sein sehr ernst. Da ist man so bewusst katholisch, fast bis zur Bewusstlosigkeit. Ich bin, was du nicht bist. Das ist der Keim der Polarisierung.

Die Kirchen sollten sich von den vielen falschen Alternativen nicht beeindrucken lassen. Eine der falschen Alternativen heißt: Politisch oder fromm. Mir fällt der Widerspruch aus den Kirchen wider die gesellschaftliche und politische Polarisierung ist viel zu zaghaft aus. Die Selbstverzwergung durch permanente Selbstbeschäftigung ist schon so weit fortgeschritten, dass das große Ganze aus dem Blick gerät. Die katholische Kirche führt gerade mit Inbrunst eine Identitätsdebatte um die Eucharistie, um das Katholische in Sinne von nicht-evangelisch, anstatt sich da einzumischen, wo es brennt. Ich möchte von den Kirchen nicht die X-Predigt wider die AfD, sondern die kluge, riskante, nachdenkliche Liebeserklärungen an diese ächzende Demokratiemaschine.

Die Bibelstelle zur Lauheit endet mit einem gemeinsamen Mahl.

Nicht heiß, nicht kalt: Ich bin lau. Aber das mit Leidenschaft.

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