Aufs Geratewohl die Unwahrheit: Recht, Moral und das Erzbistum Köln
- Christiane Florin
- 23. Mai
- 6 Min. Lesezeit
Ein Kollegengespräch im Deutschlandfunk, Tag für Tag vom 23. Mai 2025:

Levent Aktoprak: Die Staatsanwaltschaft Köln hat Anfang des Monats entschieden, das Verfahren gegen Rainer Maria Woelki, den Kölner Erzbischof, einzustellen. E gab den Verdacht auf Abgabe einer falschen Eidesstattlichen Versicherung und auf Meineid. Es ging grob gesagt um die Frage, was der Erzbischof wann von Missbrauchs-Beschuldigungen gegen zwei Priester seines Erzbistums gewusst hat. Die Ermittlungen gegen ihn liefen fast zwei Jahre. Seit Anfang Mai ist also klar: Es wird keine Anklage gegen den Kardinal erhoben – damit ist das Thema auf den ersten Blick vom Tisch. Auf den zweiten Blick aber möglicherweise nicht – warum nicht? Darüber sprach ich vor unserer Sendung mit Christiane Florin.
Christiane Florin: Aus zwei Gründen: Zum einen gibt es unterschiedliche Deutungen, zum anderen haben wir im Deutschlandfunk ausführlich über einen der beiden Fälle, über die Beschuldigungen gegen den prominenten Priester Winfried Pilz berichtet. In unserem Bericht haben wir schon Ende August 2022 Zweifel an der Eidesstattlichen Aussage von Rainer Maria Woelki formuliert.
Ich habe mich also schlicht gefragt, was die Entscheidung der Staatsanwaltschaft für unsere Berichterstattung bedeutet.
Aktoprak: Sortieren wir mal: Was hat die Staatsanwaltschaft entschieden und wie wird das gedeutet?
Florin: Es ist wie immer kompliziert bei juristischen Entscheidungen. Zum Hintergrund muss man wissen: Rainer Maria Woelki hatte die "Bild"-Zeitung verklagt, weil die behauptet hatte, er habe von Beschuldigungen gegen Winfried Pilz und gegen einen anderen Priester gewusst, aber nichts unternommen. Winfried Pilz ist 2019 gestorben, der andere Priester lebt noch. Im Rahmen dieser presserechtlichen Verfahren hat Woelki zunächst mehrere Eidesstattliche Erklärungen abgegeben und dann auch vor Gericht einen Eid abgelegt.
Im Fall von Winfried Pilz hatte Woelki erklärt, nicht vor der 4. Juni Woche 2022 mit der Angelegenheit befasst worden zu sein. Woelki war also zunächst Kläger und ist dann ins Visier der Staatsanwaltschaft geraten, weil Zweifel daran aufkamen, dass er erst so spät von den Beschuldigungen erfahren haben will. Es gab im Juni 2023 eine Razzia in Gebäuden des Erzbistums und der Privatwohnung Woelkis. Die Staatsanwaltschaft hat vor zwei Wochen, am 6. Mai, verkündet, dass sie Ermittlungen eingestellt hat; teilweise mangels hinreichenden Tatverdachts; teilweise bestand nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ein solcher hinreichender Tatverdacht. Sie sah es aber gemeinsam mit dem Gericht letztendlich nicht als erforderlich an, den Kardinal öffentlich anzuklagen. Sie hat das Verfahren eingestellt und eine Geldzahlung von 26.000 Euro an eine gemeinnützige Institution auferlegt, das hat der Kardinal akzeptiert.
Im Fall des Priesters, der noch lebt, hat die Staatsanwaltschaft Belege gefunden, wonach Woelkis eidliche Aussage vor Gericht in Bezug auf seine erstmalige Kenntnis von Vorwürfen sexueller Übergriffe falsch war.
Aktoprak: Und im Fall Pilz, über den wir berichtet haben?
Florin: Da haben die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergeben, dass er schon spätestens 2019 mit dem Fall befasst war und damit eine, so wörtlich, „objektiv unzutreffende“ eidesstattliche Versicherung abgegeben hat. Die Staatsanwaltschaft attestiert ihm in beiden Fällen nicht Vorsatz, sondern sagt, er habe "fahrlässig" die Unwahrheit gesagt und die ihm „obliegenden Sorgfaltspflichten pflichtwidrig verletzt“. Er habe, so die Staatsanwaltschaft wörtlich, "aufs Geratewohl" behauptet, sich erst im Ende Juni 2022 damit befasst zu haben. Das war objektiv falsch. Er hätte eigentlich, um seine Sorgfaltspflichten zu erfüllen, weitere Erkundigungen anstellen müssen, die hat er aber nicht angestellt.
Das Erzbistum hat sofort nach dieser Entscheidung per Pressemitteilung verbreitet, der Kardinal habe – Zitat - „nicht gelogen und sei unschuldig“. Es sollte offenbar der Eindruck entstehen: Da war nichts. Aber da war eben doch etwas nämlich unwahre Aussagen.
Aktoprak: Um auf den Fall Pilz zu sprechen zu kommen: Wer ist dieser Winfried Pilz? Warum ist der wichtig?
Florin: Er war in den 80er Jahren einer der bekanntesten Geistlichen Deutschlands. Pilz hat von 1972 bis 1989 Leiter das Jugendhaus Altenberg geleitet, war ein charismatischer Jungendseelsorger, bekannt weit über Köln hinaus, vor allem für seine soziale Arbeit. Regelrecht populär wurde er durch das Lied „Laudato Si“, das an vielen Lagerfeuern, in vielen Jugendgottesdiensten und dann ja sogar auch am Ballermann als Schlager auf Mallorca gespielt wurde. Später war er Chef des Kindermissionswerks „Die Sternsinger“. Er ist 2019 gestorben.
Was erst nach seinem Tod der Öffentlichkeit bekannt wurde und im Missbrauchs-Gutachten des Erzbistums Köln anonymisiert zu lesen ist: Es gab Missbrauchsvorwürfe eines früheren Angestellten aus Altenberg gegen Pilz, Woelkis Vorgänger, Kardinal Meisner, hatte ihn deshalb bestraft, Pilz den Kontakt zu Minderjährigen verboten.
Aktoprak: Was hat der Deutschlandfunk 2022 berichtet?
Florin: Wir haben – als erste – Zweifel daran angemeldet, dass der Erzbischof von Köln in seiner Eidesstattlichen Versicherung vom August 2022 die Wahrheit gesagt hat. Wir haben über zwei mutmaßliche Opfer von Winfried Pilz berichtet: zum einen über einen Mann, wir haben ihn Matteo Schuster genannt, der früher im Jugendhaus Altenberg gelebt hat. Er kam aus sehr schwierigen Verhältnissen. Er beschuldigte Winfried Pilz der Vergewaltigung, hat das dem Erzbistum 2021 gemeldet und wurde von Rainer Maria Woelki im Mai 2022 zum persönlichen Gespräch eingeladen, also vor der 4. Juni-Woche 2022.
Der zweite Betroffene, zu dem wir Kontakt hatten, das war der schon erwähnte frühere Mitarbeiter von Winfried Pilz. Wir haben geschildert, dass Vertreter des Erzbistums Pilz im Jahre 2012 nur sehr lax dazu vernommen haben und Hinweisen auf weitere Opfern nicht nachgegangen ist.
Auf unsere Anfrage damals, ob der Kardinal die Beschuldigungen von Matteo Schuster kannte, bekamen wir neben datenschutzrechtlichen Hinweisen und dem Verweis auf die seelsorgerliche Verschwiegenheit auch ganz allgemein als Antwort: Woelki habe sich nicht vor der 4. Juni-Woche 2022 mit dem Fall Pilz befasst. Unser sehr detailliert Fragenkatalog ist seitens des Erzbistums nur teilweise beantwortet worden und die Antworten, die es gab, waren offenkundig auch damals schon nicht sorgfältig, sondern in einem entscheidenden Punkt so fahrlässig wie die Eidesstattliche Versicherung. Es war die Unwahrheit drin.
Aktoprak: Hat sich daran etwas geändert?
Florin: Nein. Wir haben aktuell noch mal einmal beim Erzbistum nachgefragt, die Antworten sind in Sachen Matteo Schuster dieselben wie vor drei Jahren, auch unter Berufung auf Datenschutz. Neu ist nur, dass jetzt auf die allgemeine Behauptung, der Kardinal habe nichts vor der 4. Juni-Woche 2022 gewusst, verzichtet wird. Die unwahre Behauptung fehlt also in der Antwort.
Mir ist durch diesen Fall etwas klar geworden, was mir vorher gar nicht so bewusst war: Wenn wir als Journalistinnen und Journalisten im Rahmen einer Verdachtsberichterstattung recherchieren, müssen wir sehr sorgfältig vorgehen. Wir dürfen keine Frage, keinen konkreten Vorwurf, keinen Beleg in unseren Anfragen vergessen. Wir dürfen weder aufs Geratewohl fragen noch aufs Geratewohl berichten. Eine Pflicht zur sorgfältigen und wahrheitsgemäßen Antwort hat ein Erzbischof uns gegenüber nicht. Also die Fragen müssen sorgfältig sein, die Antworten müssen es nicht sein.
Aktoprak: Und was bedeutet das nun für weitere mediale Berichterstattung nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens?
Florin: Die Strafrechtliche Komponente ist abgeschlossen, er ist juristisch, strafrechtlich unschuldig. Journalismus besteht nicht allein aus juristischen Tatsachen. Es gibt ja auch noch ein moralisches Problem, das Kardinal Woelki selbst erzeugt hat.
Aktoprak: Worin besteht das moralische Problem?
Florin: In dem Versprechen, das Rainer Maria Woelki selbst öffentlich abgegeben hat. Die Staatsanwaltschaft hatte nicht darüber zu befinden, ob der Erzbischof eine gute Führungskraft ist oder ob er sorgfältig und glaubhaft Missbrauch aufarbeitet. Er selbst hat allerdings gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber Betroffenen mehrfach erklärt, Missbrauchsaufklärung sei Chefsache, er werde gründlich aufarbeiten. Zum Beispiel in seiner Videobotschaft vom 23. September 2018. Da sagte er:
„Unser Kölner Erzbistum wird sich der Wahrheit stellen, auch dann, wenn diese schmerzlich ist. Und dazu gehört es, ungeschönt und ohne falsche Rücksichten aufzuklären. Das wird wahrscheinlich sehr schmerzhaft, auch für uns selbst.“
Florin: Ungeschönt und ohne falsche Rücksichten - das ist der Anspruch, den er selbst formuliert hat. Nach der Entscheidung der Staatsanwaltschaft hat er erklärt, er wolle sich Zukunftsaufgaben widmen, mehr Menschen für das Evangelium gewinnen .Missbrauchsaufarbeitung nennt er nicht als Zukunftsaufgabe. Nach der Entscheidung der Staatsanwaltschaft wissen wir: So wichtig war ihm das Thema dann doch nicht. Den Betroffenen ist er nicht gerecht geworden.
Auch aktuell sehe ich keinen Ehrgeiz, das nachzuholen und wirklich diesen ganzen großen Komplex um Winfried Pilz und diese übergriffige Jugendseelsorge aufzuklären, aufrichtig – aus eigenen Antrieb - zu sagen, was dort geschehen ist, wer wann was wusste. Unsere Recherche hat den Verdacht nahegelegt, dass ein charismatischer Geistlicher in den 1970er und 80er Jahren Sozialarbeit dafür genutzt hat, um benachteiligte junge Männer kennenzulernen und sozusagen getarnt als Wohltäter potenzielle Opfer zu rekrutieren. Matteo Schuster ist 2022 gestorben. Juristisch ist das nicht mehr zu fassen. Ein moralisches Problem für Woelki bleibt.
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