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Die Herrenboutique, der Klerus und die Demokratie

Am Freitag gab der Göttinger Jurist Hans Michael Heinig im Deutschlandfunk ein Interview. Er erklärte darin differenziert, wie Freiheitsrechte beschränkt und wieder gewährt werden können. Zum Thema Gottesdienste sagte der Experte für Staats-Kirchen-Recht: "In dem Moment, wo Herren-Boutiquen wieder geöffnet werden, ist es schwer darstellbar, dass selbst mit größten Schutzmaßnahmen keine gottesdienstlichen Versammlungen mehr stattfinden dürfen. Das muss sachgerecht begründet werden."



Das ist eine juristisch ernst zu nehmende Aussage. Trotzdem musste ich lachen, als ich diesen Satz im Radio hörte. Die Herrenboutique, die einst Erwin Lottemann mit dem Papst in Wuppertal eröffnen wollte, hat schon seit Wochen flächendeckend geöffnet, Modenschau inklusive.


In der katholischen Kirche kommt so schnell nichts weg. Deshalb kann man im Internet Priester besichtigen, die Gewänder ihrer vorkonziliaren Vorgänger auftragen, bei anderen hört man das Polyester durch die PC-Lautsprecher knistern, einige zelebrieren vollschwarz, andere ganz in Weiß. Manche vermissen ihre Gemeinde, manche fühlen sich ohne Kirchenvolk in den Bänken so richtig in persona Christi. Welche katholische Kirche darf’s denn sein?, scheint der Herrenausstatter gefragt zu haben. Kleider machen Kleriker.

Die gestreamte Frau, der dressierte Mann


Jetzt sei die Zeit gekommen für einen digitalen Weiberaufstand, schreiben mir Leserinnen des gleichnamigen Buches. Ich winke dankend ab. Der klerikal-dressierte Mann liebt den großen Auftritt. Die Show sei ihm gegönnt. Die gestreamte Frau in einer Wuppertaler Weiberbudike brauche ich jetzt nicht auch noch. Gleichberechtigung meint gleiche Rechte und nicht ein Gleichgewicht des Schreckens. Pardon, ich schweife ab. Es ist nicht gut, die kirchenpolitischen Differenzen der Vor-Corona-Ära zu betonen, nahm ich aus einer Radiodiskussion mit Anselm Grün und Manfred Lütz im SWR mit. Emanzipation sei Gedöns für Glaubensschwache, erst recht im Angesicht einer Pandemie, betonen lehramtstreue Medien. In der Krise werde das Wesentliche sichtbar: der Priester am Altar.


Es dürfte nicht überraschen, dass ich das anders sehe. Wenn Caritas-Mitarbeiter per Rikscha Obdachlosen Essen bringen, wenn Gemeinden Nachbarschaftshilfen organisieren, wenn Sozialdienste nach Wegen suchen, häusliche Gewalt zu verhindern, dann ist das wesentlich, systemrelevant für Gesellschaft und Kirchen. Aber um meine Privatmeinung geht es nicht. Auch der leistungsstärkste PC-Priester per Livestream kann nicht den eucharistischen Hunger stillen. Deshalb wird der Ruf nach Gottesdiensten lauter, der Hinweis auf Caritas und Co. wird ihn nicht übertönen.


Eucharistischer Hunger, politikwissenschaftliches Schwarzbrot Dieses liturgischen Grund-Bedürfnisses möchte ich mich nun annehmen und zwar in politikwissenschaftlicher Hinsicht. Es geht nämlich nicht allein um Brot und Wein oder um Realpräsenz im Digitalen, der Hunger betrifft auch das Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Dazu etwas politologisches Schwarzbrot: Das Grundgesetz ist ebenso religionsfreundlich wie religionsneutral. Neutralität bedeutet gerade nicht, dass Religion unsichtbar gemacht wird; sie besagt, dass der Staat keine Aussage über den Wahrheitsgehalt einer Religion trifft. Gläubige und ihre Hierarchen bekommen viel Spielraum: Der demokratische, gewaltenteilig verfasste Staat schreibt den Religionsgemeinschaften nicht vor, sich demokratisch, gewaltenteilig zu organisieren. Er lässt ihnen auch die Freiheit, Art. 3 des Grundgesetzes außer Acht zu lassen. Religionen dürfen bei der Ämtervergabe Menschen aus Gründen des Geschlechts und der sexuellen Orientierung benachteiligen; sie dürfen behaupten, das sei keine Diskriminierung, das sei die Wahrheit. Man kann sagen: Religionsgemeinschaften haben es im bundesrepublikanischen Normalbetrieb ziemlich gut.

Im Ausnahmezustand der Pandemie hat der Staat die Religionsfreiheit beschränkt. Anders als in religionsfeindlichen Diktaturen hat er aber weder allein das Glaubensleben noch einen bestimmten Glauben untersagt. Es wurde verboten, sich in Kirchen, Synagogen und Moscheen zu versammeln, andere Versammlungen sind gleichfalls verboten. Gottesdienstzelebranten und ihre Gemeinden werden also nicht spezifisch benachteiligt. Das Flatten-the-Curve-Ziel mutet allen Entbehrungen zu, auch den Fußballclubs, den Unternehmen und der freien Kunstszene. Die Kirchen haben keinen Grund, besonders laut zu jammern. Aber sie haben in einer Demokratie das Recht, sich öffentlich zu beschweren. Sie können – Gewaltenteilung sei Dank – das höchste Gericht anrufen. Karlsruhe entschied kurz vor Ostern, der schwere Eingriff in die Religionsfreiheit sei derzeit zu rechtfertigen, müsse aber ständig überprüft werden. Religionsgemeinschaften haben es also auch im Ausnahmezustand ziemlich gut.

"Widerstand" in der Jogginghose

Um so erstaunter war ich, als ich kürzlich eine Mail aus dem akademischen Milieu erhielt. Die Absenderin schrieb, die deutschen Bischöfe hätten das Gottesdienstverbot „widerstandslos“ hingenommen. Sie schlug vor, mit mir darüber in einem öffentlichen Mailwechsel zu debattieren. Ich lehnte ab, zum einen aus Zeitgründen, zum anderen und vor allem, weil mich das Wort “Widerstand“ stört. Die Bundesrepublik ist auch im Ausnahmezustand keine Diktatur geworden; Kritik, Debatte, Pluralität – all das wurde nicht ausgesetzt. Warum sprechen Intellektuelle, die es besser wissen müssten, von „Widerstand“, obwohl Widerspruch das treffende Wort wäre? Der italienische Philosoph Georgio Agamben tritt mit Revoluzzerkaracho dieselbe offene Tür ein. In einem NZZ-Artikel wirft er den Kirchen vor, sie hätten sich nicht genug für den Glauben eingesetzt. Die Kirche habe sich zur „Magd der Wissenschaft“, der „neuen Religion unserer Zeit“ gemacht. Sie habe vergessen, „dass die Martyrien die Bereitschaft lehren, eher das Leben als den Glauben zu opfern, und dass auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten.“


Der Aufsatz ist durchsetzt mit Entweder-Oder-Konstruktionen, schneidig im Ton, dabei intellektuell schludrig wie eine ungewaschene Jogginghose nach 30 Tagen Home-Office. Es ist schrecklich, dass Menschen einsam sterben, weil es als Infektionsrisiko gilt, Schwerstkranken die Hand zu halten. Aber ebenso schrecklich ist Agambens Traum, dass in der letzten Stunde Helden geboren werden sollen, Widerstandskämpfer gegen einen angeblich diktatorischen Staat. Die Alternativen-Sammlung des Philosophen gipfelt in dem Satz: „Ich weiß, dass es immer Leute geben wird, die sich erheben und antworten werden: Das durchaus schwere Opfer sei im Namen moralischer Prinzipien dargebracht worden. Sie möchte ich daran erinnern, dass Adolf Eichmann – offensichtlich in gutem Glauben … – nicht zu wiederholen aufhörte, dass er, was er getan hatte, aufgrund seines Gewissens getan habe, um dem zu genügen, was er für die Gebote der kantischen Moral hielt.“


Auch ohne Politikstudium kann man erkennen, dass es einen bedeutenden Unterschied macht, ob eine Diktatur wie das Hitler-Regime einen rassistischen Vernichtungskrieg führt oder ob eine Demokratie versucht, Leben zu retten und die Triage eines Feldlazaretts zu vermeiden. Politikerinnen und Politikern machen Fehler, sie überschauen nicht alle Folgen ihrer Entscheidungen, sie erzeugen Widersprüche, jede Ausnahme im Ausnahmezustand wirft Fragen auf. Dafür müssen sie sich öffentlich rechtfertigen, oft müssen sie sich korrigieren. Demokratische Politik besteht im Moment auch darin, verschiedene verwundbare Gruppen zu identifizieren und zu verhindern, dass die eine gegen die andere ausgespielt wird. Was diese Abwägung mit einer „Eichmann-Ethik“ gemein haben soll, hat sich mir nicht erschlossen. Aber Irgendwas mit Hitler klingt immer hammermäßig.

Not lehrt basteln. Not lehrt grillen

Womit wir beim Baumarkt wären. Wer Gottesdienste zurückhaben will, ohne gleich zu behaupten, dass wir in einer Diktatur leben, kann sich eine mildere Variante des Widerstands zurechtzimmern. Die klingt dann so: Es ist dermaßen ungerecht, dass sich Kunden an der Obi-Kasse drängeln, aber eine Eucharistiefeier mit 2-Meter-Abstand als Seuchenherd gilt! Dieses Unrecht muss ein Ende haben!

Demokratie basiert auf Mehrheitsentscheidungen. Die aktuelle Empirie zeigt: Not lehrt nicht beten. Not lehrt basteln. Not lehrt bauen. Not lehrt grillen. Den Dremel Multi mit 40 Aufsätzen tragen Männer auf dem Parkplatz wie eine Monstranz zum Auto. Am Weber GENESIS II SP-435 GBS zelebrieren Hausherren die Fleischwerdung des Fleisches. Säkularer Klerikalismus wird nachgefragt, Baumärkte bedienen diese Liturgie.

Demokratie bedeutet Herrschaft der Mehrheit, aber nicht Diktatur der Mehrheit, die Heimwerker-Massen unterjochen niemanden. Kirchenvertreter können in Internet-Predigten über Baumärkte herziehen, sie können jede Öffnung eines Gewerbetriebs als offene Wunde anprangern, sie können Regierungen ob ihrer Widersprüche kritisieren und Forderungen an sie richten. Die Politik hört ihnen zu, bittet Bischöfe und Funktionäre von DBK und EKD zu Tisch. Noch verlangen die meisten Landesregierungen von den Gottesdienst-Rufern Geduld. Den Herren platzt der Priesterkragen


Angesichts von 2000 Jahren Kirchengeschichte sind die Corona-Wochen nicht einmal ein Wimpernschlag, aber in der Herrenbudike platzt der Priesterkragen schnell. Zwei kleine kirchenpolitische Randbeobachtungen: Just jene, die von Reformen und vor allem von Reformerinnen Geduld bis zum Sankt Nimmerleinstag verlangen, wollen ihren eucharistischen Hunger sofort gestillt wissen. Just jene, die über „protestantische Kirchenparlamente“ spotten, profitieren von den Segnungen der demokratischen Debatte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht mehr lange warten müssen, bis ihre Lobby-Arbeit fruchtet und Gottesdienste unter bestimmten Bedingungen wieder möglich sind. Nun könnte man auf den Gedanken kommen, dass die Herren durch diese Corona-Erfahrung Freiheitsrechte und Gewaltenteilung schätzen lernen. Womöglich lehrt Not Demokratie. Könnte es sein, dass einige sagen: Debatte, Abwägung und Selbstkorrektur wollen wir in unserer katholischen Herrenboutique auch?

Dass sich der Laden reformiert, ist so wahrscheinlich wie ein Lottogewinn. Ende April, am Tag der Diakonin, mache ich hier mein Gleichberechtigungsbüdchen wieder auf. Sollten die Grundrechte, die katholische Bischöfe vom Staat gerade einfordern, auch innerkirchlich systemrelevant werden, dann will ich Erwin Lotteman heißen.

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