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Vater Staat, Mutter Kirche - es muss Liebe sein

Autorenbild: Christiane FlorinChristiane Florin

Drei Wochen lang schweigt Robert Zollitsch. Am 28. Januar 2010 ist der Brief von Klaus Mertes über Missbrauchsfälle am Berliner Canius-Kollege bekannt geworden, am 22. Februar erklärt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz öffentlich: "Wir sind erschüttert über das Verhalten von Kirchenvertretern und Erziehern. Wir leiden mit den Opfern, die wir um Verzeihung bitten." Wir sind auch Opfer, heißt das.


Erschütterungserschütterungsstolz

Die Physik kennt keine Erschütterungserschütterung, der Duden verzeichnet für "erschüttert" weder Komparativ noch Superlativ. Aber rund acht Jahre später vollbringt die DBK-Spitze ein physikalisches und sprachliches Wunder: Die Medien messen eine Erschütterungserschütterung, am erschüttertsten zeigt sich Reinhard Marx: "Wir sind erschrocken und tief erschüttert über das, was möglich war im Volk Gottes, durch Priester, die den Auftrag des Evangeliums hatten, Menschen aufzurichten“, sagt er in seiner Eröffnungspredigt zur Herbstvollversammlung in Fulda. Am Tag danach wird die MHG-Studie präsentiert.





Jetzt, knapp zwei Jahre später, ist aus der tiefen Erschütterungserschütterung etwas Hohes geworden: Erschütterungserschütterungsstolz. Die katholische Kirche und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung haben gestern eine gemeinsame Erklärung zur Aufarbeitung feierlich unterzeichnet.


"Damit ist die Katholische Kirche die erste Institution in Deutschland, die eine entsprechende Vereinbarung mit dem Missbrauchsbeauftragten Johann Wilhelm Rörig abgeschlossen hat. Sie könnte zum Vorbild für weitere Einrichtungen wie Schulen, Sportvereine oder die Evangelische Kirche werden", höre ich die Nachrichtensprecherin im Deutschlandfunk sagen. Das Domradio vermeldet: "Kirche nimmt Vorreiterrolle bei Aufarbeitung von Missbrauch ein" und titelt etwas mit "Meilenstein".


Die Vereinbarung, die da getroffen wurde, bedeutet: 27 Diözesen bilden Aufarbeitungskommissionen, die nach irgendwie ähnlichen, aber nicht gleichen Standards in unterschiedlichen Geschwindigkeiten arbeiten. Das Projekt gilt zunächst für sechs Jahre.


Herr der Akten, Herr des Verfahrens

16 Jahre nach der von Robert Zollitsch bekundeten Erst-Erschütterung dürfte also im Jahre 2020 eine abschließende amtliche Regung zu erwarten sein. Der aktuelle Erschütterungserschütterungsstolz der Bischöfe ist verständlich; sie walten weiter hoheitlich, niemand macht ihnen die Herrschaft streitig. Ja, sie sind Vorreiter, sie bestimmten Tempo und Richtung. "Die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs ist genuine Aufgabe des jeweiligen Ortsordinarius", heißt es nach der feierlichen Erklärungs-Präambel. Die Bischöfe berufen die Mitglieder der Kommissionen, sie bleiben die Herren des Verfahrens und Herren der Akten, sie gewähren - und verwehren. Artikel 7.1 lautet : "Die (Erz-)Diözesen verpflichten sich zu umfassender Kooperation mit den eingesetzten Aufarbeitungskommissionen, denen bzw. einzelnen Mitgliedern Akteneinsicht oder Auskunft gewährt wird, sofern es für die Erledigung der Aufgaben der Kommission erforderlich und rechtlich zulässig ist und keine berechtigten Interessen Dritter entgegenstehen."


Mit Pony-Literatur konnte ich nie etwas anfangen, deshalb steige ich an dieser Stelle vom Pferd, lasse die Vorreiter hinter mir und wechsele das ohnehin totgerittene Bild. Mir drängt sich ein anderes auf: Vater Staat geht partnerschaftlich mit Mutter Kirche um. Kooperation gemäß Punkt 7.1. bedeutet: Er rüttelt nicht selbst an den Aktenregalen. Er wartet wie ein Kavalier, bis vor lauter Erschütterungserschütterung etwas aus ihren Schränken fällt. Und das kann dauern.


Kurzzeitig hat es in der Beziehung einmal gekriselt und das hatte mit einer anderen Frau zu tun. Im Februar 2010 sagte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, damals Bundesjustizministerin, in einem Fernsehinterview, sie haben nicht den Eindruck, dass die katholische Kirche konstruktiv mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeite. Robert Zollitschs brauchte keine drei Wochen, um darauf zu reagieren. Er zeigte sich unmittelbar erbost über diesen "einmaligen Vorgang" und stellte Leutheusser-Schnarrenberger ein Ultimatum. Binnen 24 Stunden solle sie ihre "maßlose Kritik" zurücknehmen. Die Bundeskanzlerin schlug sich nicht auf die Seite ihrer amtausübenden Ministerin, sondern sah Vermittlungsbedarf. Man fand eine Sprachregelung, ein bischöflicher Missbrauchsbeauftragter wurde ernannt, eine Hotline eingerichtet, Leitlinien verschärft. Zollitsch blieb im Amt, die Justizministerin auch.


Wahrheit auf der Strecke

Für mein Buch "Trotzdem" habe ich mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im November 2019 gesprochen. Warum wurde aus der kurzzeitigen Konfrontation wieder eine Kooperation? "Nach meiner Erfahrung entsteht aus dem Druck von außen in der Kirche eine besondere Beharrungsstärke", sagte die FDP-Politikerin. Sie habe es mit einem "Closed Shop" zu tun gehabt. Mit dem Wissen von heute jedoch wäre eine unabhängige Kommission richtig, "wie auch immer man sie nennen mag", sagt Leutheusser-Schnarrenberger.


Wahrheitskommission zum Beispiel. Klaus Mertes greift diesen Gedanken in einem Aufsatz für die neue Ausgabe der "Herder-Korrespondenz" auf. Von einer Wahrheitskommission sprach auch Katharina Barley im Herbst 2018 in einem Interview, damals war sie Bundesjustizministerin. Reinhard Marx verlangte dafür von ihr - anders als sein Vorgänger - keine Entschuldigung. Warum auch? Zu unwahrscheinlich erschien nach all den Jahren die Idee einer eher konfrontativen Aufarbeitung.


An Kommissionen wird es nach der feierlichen Erklärung nicht fehlen, eine Wahrheitskommission ist nicht darunter. Die Bischöfe, Pardon: die Ortsordinarien, haben daran kein Interesse. Sie brauchen für ein Nein nicht einmal besondere Beharrungsstärke, denn der Druck von außen hat nachgelassen. Ansonsten twitteraktive Politikerinnen und Politiker twitterten nichts zur MHG-Studie. 2018 war das politische Berlin schon stiller als 2010, jetzt ist es, was Kritik an kirchlicher Aufarbeitung anbetrifft, ganz verstummt. Der CDU-Mann Marcus Weinberg gab in einem ZDF-Interview den Zollitsch und erklärte, die katholische Kirche selbst leide am allermeisten unter "diesen Missbrauchsvorfällen". Er schob eine Presseerklärung hinterher, in der er auch noch die Opfer erwähnte. Aber eigentlich formulierte der Christdemokrat im Herbst 2018, was bis heute an der kirchlichen Basis zu hören ist: Ja, Missbrauch ist schlimm, aber den gibt es auch anderswo. Unser Pastor ist okay. Die Protestanten haben ja noch nicht mal eine richtige Studie...


Die Lider senken sich schläfrig


Dass Verbrechen unaufgeklärt und Akten ungesichtet bleiben, ist kein Skandal mehr. Es ist normal. Die Augenlider des Publikums senken sich schläfrig, wenn die X-Missbrauchsgeschichte aufgeblättert wird. Auch die Politik spielt mit den Betroffenen auf Zeit.


Demnächst werden hohe Kirchenaustrittszahlen vermeldet. Der Staat aber hat die katholische Kirche so lieb, dass er glatt einen Doppelnamen annehmen würde.











 
 
 

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