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2010 - 2024 - 2038: Missbrauch-Macht-evangelische Kirche

1517 hat Martin Luther – die Älteren werden sich erinnern – 95 Thesen in die Welt gesetzt.

1531 war schon einiges passiert: Kirchenbann, Reichstag zu Worms, Wartburg, vor allem: Ausbreitung der reformatorischen Ideen, 1530 Confessio Augustana....


Man kann also in 14 Jahren eine ganze Menge bewegen.


Jetzt blicke ich auf andere 14 Jahre. Angesichts des Themas "Macht" ahnen Sie,  welche Jahre ich meine:


2010 ist als Missbrauchsskandaljahr in die jüngere deutsche Kirchengeschichte eingegangen, in die römisch-katholische, aber auch in die evangelische. Im Januar 2010 machte der Jesuitenpater und Schuldirektor Klaus Mertes Missbrauchsfälle am Berliner Canisius Kolleg öffentlich. Die  Wirkung war groß, und zwar nicht deshalb, weil das Thema vorher Tabu gewesen wäre. Es gab viele Berichte über sexualisierte Gewalt durch Kleriker in reichweitenstarken Medien, im Dossiers der ZEIT, auf dem Titel des "Spiegel", es gab Investigatives in politischen TV-Magazinen.




Aber Klaus Mertes ist kein Journalist, er ist Priester. Das machte 2010 den Unterschied: Jemand aus dem System, jemand aus der Berufsgruppe der Täter, sagte: Das, was die Betroffenen schildern, trifft zu. Klaus Mertes glaubte ihnen. Das war neu.  Im Laufe des Jahres trat der Bischof von Augsburg Walter Mixa zurück, bzw. wurde zurückgetreten. Ohne dass in seiner Confessio Augustana eine direkte Verbindung zum Thema sexualisierte Gewalt hergestellt worden wäre.


"Meine Glaubwürdigkeit wird angezweifelt"


Im Juli 2010 trat auch die evangelische Landesbischöfin Maria Jepsen zurück. Gegen zwei Pastoren aus Ahrensburg, also der Nordelbischen Kirche, gab es schwere Beschuldigungen. Zunächst hatte Maria Jepsen gesagt, ihr Gewissen sei rein. Vier Tage später hieß es in der Rücktrittserklärung: „Meine Glaubwürdigkeit wird angezweifelt.“ Sie habe die Hoffnung, „dass die Missbrauchsfälle in Ahrensburg und anderswo zügig aufgeklärt werden und die Wahrheit ans Licht kommt.“ Kein Wort darüber, warum bisher die Wahrheit nicht ans Licht kam, die Vorwürfe waren lange bekannt.


2010 war also für beide Kirchen ein wichtiges Jahr. 14 Jahre später legt die evangelische Kirche eine große Untersuchung vor, die Forum-Studie. "Schon 14 Jahre später", sagen mir manche Vertreter*innen Ihrer Institution, sollte ich sagen, man habe sich wirklich beeilt.


Das "schon" geht mir nicht über die Lippen.


Die Studie kam reichlich spät. Die katholische Kirche hat bis 2018 gebraucht, um das absolute Hellfeld zu erfassen: lückenhafte Aktenbefunde, ausgewertet auf der Basis von Fragebögen. Bis zur Veröffentlichung der MHG-Studie hielten die römisch-katholischen Bischöfe an ihrer Erzählung von den "bedauerlichen Einzelfällen" fest. Wider schlechteres Wissen. Das war ein medienstrategischer Spin, weniger fein ausgedrückt: Es war 2010 eine Lüge, erst Recht aus dem Munde des damaligen DBK-Vorsitzenden Robert Zollitsch.


Bei unseren "Morgenandachten" im Deutschlandfunk mache ich mir ab und an den Spaß und zähle die Minuten und Sekunden, bis die Sprecherin oder der Sprecher vom immer noch beliebten lebensweltlichen Einstieg ("Als ich mir heute Morgen in der Dämmerung die Jogging-Schuhe zuband, ....") in die Jesus-Kurve einbiegt ("Auch Jesus gibt mir Halt, wie ein guter Schnürsenkel"). Grober Befund: Meistens biegen die Protestant*innen früher ein als die katholische Konkurrenz.

Auf dem Weg zur Missbrauchs-Studie liefen die römisch-katholischen Bischöfe etwas schneller, vor allem deshalb, weil sie stärker unter medialer Beobachtung standen.


Die Jesuskurve soll ein kleiner, stimmungsaufhellender Gag sein, damit Sie mir überhaupt zuhören. Meistens wird Missbrauch als „Ach, dieses schwierige Thema“ beseufzt. Gern auch mit dem Zusatz: Wie halten Sie das bloß aus, sich als Journalistin damit über Jahre zu beschäftigen?


Ich frage mich: Wie halten es Christenmenschen aus, sich mit diesem fortgesetzten Unrecht NICHT zu beschäftigen?  


Sechs Machtfragen möchte ich stellen, sechs Thesen aufstellen:


 Machtfrage eins: Verspätung muss man sich leisten können


Warum dauert das so lange? In der Frage steckt schon die Antwort. Es dauert deshalb so lange, weil die Kirchen das Tempo, den Zuschnitt der Studien, den Umfang der untersuchten Akten, die Untersuchungszeiträume und den Zeitpunkt der Veröffentlichung selbst bestimmen. Das Verfahren wurde 2010, damals am Runden Tisch mit der Bundesregierung unter Angela Merkel, aufgesetzt, so ist es geblieben. Die aktuelle Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Kerstin Claus, versucht zwar, mehr politischen Druck aufzubauen. Aber ihre Möglichkeiten sind begrenzt.


Angela Marquardt vom Betroffenenbeirat der UBSKM sprach im vergangenen Jahr auf einem Kongress des Vereins „Umsteuern“ (an den geht seit meinem Austritt ein Teil meiner Kirchensteuer). Sie sagte sinngemäß: Wenn die Kirchen mit am Tisch säßen, dann würden ihre Vertreter*innen sehr vorsichtig behandelt, so nach dem Motto: Geht es Ihnen gut oder ist das jetzt zu hart? Keineswegs wie Beschuldigte oder Schuldverantwortliche, eher wie Partner.


Macht ist nicht nur das, was man macht. Macht kann sich auch darin zeigen, was andere – in diesem Fall der Staat - unterlassen. Kirche und Staat haben ein kooperatives Verhältnis, auch dann, wenn es um die Verantwortung für Missbrauch, für Übergriffe, für Straftaten geht. Die Kirchen sind mächtige Player im Sozialbereich, wichtige Partner für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Suppenküchen wiegen Missbrauch auf.


Die Kirchen haben vom Staat keine konfrontative, wirklich unabhängige Untersuchung zu befürchten. Zudem ist es kein politisches Gewinnerthema, sich mit den Kirchen anzulegen. Noch dazu wegen so etwas Unappetitlichem wie Missbrauch, der ja, der Zusatz darf in diesem Kontakt nie fehlen, viel häufiger in der Familie vorkommt oder im Sportverein.

 

Ob aus den Erkenntnissen und Lücken der Forum-Studie etwas folgt oder nicht – das kann die evangelische Kirche selbständig bestimmen. So wie die römisch-katholische es nach der MHG-Studie auch konnte. Es gibt seit 2020 eine Gemeinsame Erklärung der katholischen Bischofskonferenz mit dem damaligen UBSKM Johannes Wilhelm Rörig. Das darin etablierte System mit Betroffenenbeiräten und Aufarbeitungskommissionen funktioniert schlecht, Betroffenenbeiräte brechen auseinander, Aufarbeitungskommissionen sind unvollständig, Mitglieder treten unter Protest aus.

Für mich ist undurchschaubar, welche Rolle jene Gutachten spielen, die Bischöfe selbst in Auftrag geben, und wer auf die Standards achtet, die für Aufarbeitungsberichte vorgeschrieben sind und wie Verstöße dagegen sanktioniert werden.


Dennoch gab es für die Evangelische Kirche Ende 2023 eine Art Blaupause dieser Gemeinsamen Erklärung, immerhin mit einer verbesserten Betroffenenbeteiligung. Mehr ist offenkundig nicht drin. Die Kirchen behalten das Heft in der Hand.

 

Machtfrage zwei: Die Macht des intellektuellen Hochmuts  

 

Die katholischen Bischöfe sind mit der Lüge von den „bedauernswerten Einzelfällen“ aus machttaktischer Perspektive wunderbar durchgekommen. Es vergingen viele Jahre, in denen Betroffene vergeblich gekämpft haben, in denen Betroffene gestorben sind und in denen Hierarchen mit allen klerikalen Ehren in den Ruhestand verabschiedet werden konnten.

 

In der evangelischen Kirche lautete die öffentliche Erzählung lange, durchaus mit Hochmut vorgetragen: Bei uns ist das Problem mit dem Missbrauch nicht so groß. Wir haben keinen Zölibat und sind demokratisch organisiert. Der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber sagte 2018 in einem Interview mit dem "Kölner Stadtanzeiger"vom Oktober 2018, Aufarbeitung sei notwendig, aber:  „Für sexuellen Missbrauch gibt es bei uns nicht dieselben strukturellen Voraussetzungen wie in der katholischen Kirche – Stichworte: hierarchische Struktur, Autoritätsverhältnisse, Pflichtzölibat, Sexualmoral. Das Problem hat auch international im evangelischen Bereich nicht die gleiche Dramatik. Selbstkritik und das Leiden an der eigenen Kirche gehören zum Wesen des Protestantismus. Deshalb hat auch die Aufarbeitung aller Arten von Skandal im Protestantismus Tradition.“


Kirchentagspräsident Thomas de Maizière erklärte 2023 in einem Interview mit "Christ&Welt", die evangelische Kirche habe "ganz klar" ein Problem mit Missbrauchsfällen, das aufgearbeitet werden müsse; es möge auch in der evangelischen Kirche Machtstrukturen gegeben haben, die Täter geschützt hätten, aber "Amt und Person mischten sich nicht so" wie bei den Katholiken. Beliebt ist auch die Behauptung, dass Menschen aus der evangelischen Kirche austreten wegen des Kölner Erzbischofs. Da werde die evangelische Kirche in Mithaftung genommen, sagte der Rheinische Präses Thorsten Latzel in einem Interview 2022.


Wenn wir im Deutschlandfunk vor der Forum-Studie, also vor Januar 2024, über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche berichtet haben, dann bekam ich Post von Pfarrern i. R., die mir darlegten – stolz auf ihre Bildung, stolz darauf, eine Frau belehren zu können –, das mit dem Missbrauch in ihrer Kirche sei eine Erfindung der Medien. Auch sie verwiesen auf den nicht vorhandenen Zölibat.

 

Dabei behauptet keine einzige seriöse Studie, der Zölibat sei die Ursache für Missbrauch. Er ist ein Risikofaktor in einer Konstellation aus klerikaler Macht, Korpsgeist und einer Sexualmoral, die Selbstbeherrschung mit Herrschaftsversprechen verbindet.

Ich verstehe nicht, wie kluge, einflussreiche Menschen den Unsinn ventilieren können, ohne Zölibat gebe es keinen Missbrauch. Ich erkläre es mir so: Man kann offenbar als klug, moralisch, einflussreich, als protestantischer intellektueller Influencer gelten, ohne sich auch nur einmal intensiver mit dem Thema sexualisierte Gewalt beschäftigt zu haben.

 

Wer doch fragt, bleibt dumm


2019 haben wir im Deutschlandfunk einen Beitrag über den Stand der Aufarbeitung in der evangelischen Kirche gesendet. Der Beitrag war ein Kollegengespräch, das heißt, ich habe als Moderatorin der Sendung mit einem Journalisten gesprochen, der viele Jahre dazu recherchiert hat.


Wir sprachen unter anderem über den Fall Ahrensburg. Die Nordkirche hat nach dem Rücktritt von Maria Jepsen das Geschehen in einer Studie aufgearbeitet und die Ergebnisse 2014 veröffentlicht. Der Kollege hatte nicht nur in der Nordkirche recherchiert, sondern auch in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Schlesische Oberlausitz (EKBO), vor der ich hier spreche. Die Interviewpartner, die ihm die EKBO, damals vermittelt hatte, fragte er, ob sie die Studie der Nordkirche gelesen hätten. Die Antwort war nein. Das sagte der Kollege auf dem Sender, vor mehreren hunderttausend Hörerinnen und Hörern also.

 

Es gibt unterschiedliche Arten, institutionell auf eine solche Berichterstattung zu reagieren. Man kann als EKBO sagen: Mist, wir hätten auf diese Frage vorbereitet sein müssen und wenigstens für den Termin mit dem Journalisten die Studie der Nordkirche lesen müssen.

Oder man kann versuchen, die Sorgfalt des Journalisten zu bezweifeln – eines freien Kollegen.


Welche der beiden Möglichkeiten wurde gewählt? 

 

Nicht überraschend: letztere. Eine Mail aus der EKBO ging an mich als zuständige Redakteurin - einige Personen aus der Kirche waren in Kopie gesetzt, damit die Zweifel am Journalisten und Formulierungen wie „tendenziöse Berichterstattung“ auch schön gestreut wurden.


Einen Punkt möchte ich herausgreifen, weil er so charakterististisch ist.  Unser Autor hatte im Gespräch gesagt, es gebe in Sachen Aufarbeitung nur die Studie der Nordkirche. Das stimmte damals, es gab nichts Vergleichbares in anderen Landeskirchen. Die EKBO-Mail setzte dem entgegen: Aber wir haben ein Präventionskonzept!


Das ist der Ablenkungs-Klassiker: Wir Journalisten fragen nach der Vergangenhei, wollen wissen, was gewesen ist, wer dafür verantwortlich war. Und wir werden auf ein Präventionskonzept verwiesen, das auf die Gegenwart und die Zukunft gerichtet ist. Prävention ist wichtig, aber sie ersetzt nicht Aufarbeitung.


Nun kann man dieses Beispiel als anekdotische Evidenz entsorgen. Aber es kommt häufig vor, dass Journalist*innen, die zum Thema Missbrauch intensiv recherchieren, von Kirchenmenschen diskreditiert werden. Wer beharrlich Aufarbeitung verlangt und sich nicht mit Prävention abspeisen lässt, bekommt zu hören: Der oder die hat ein persönliches Problem mit uns, der oder die IST das Problem.


Aufarbeitung würde bedeuten, Vorgänge genau zu rekonstruieren, die Namen von verantwortungslosen Verantwortlichen zu nennen, sich mit einflussreichen Menschen anzulegen. Das ist natürlich unbequemer als ein Präventionskonzept zu erarbeiten. In puncto Aufarbeitung hatte die evangelische Kirche viele Jahre nichts vorzuweisen, auch jetzt ist es wenig. Anstatt zuzugeben: "Wir haben kaum aufgearbeitet", wurden und werden Journalistinnen und Journalisten mit länglichen Mails voller Ersatzmaßnahmen zugetextet, gern mit dem Zusatz: Wir sollten jetzt nach vorn schauen und konstruktiv denken.


Wenn ich als Journalistin nach Aufarbeitung frage und auf Prävention verwiesen werde, dann werde ich für dumm verkauft. Deshalb gehört auch diese Reaktion für mich ins Kapitel „Macht des intellektuellen Hochmuts“.

 

Wenn Sie den oben erwähnten, angeblich "tendenziösen" DLF-Beitrag vom 2019 heute noch einmal hören und mit der Forum-Studie vergleichen, werden Sie feststellen, dass viele Kernpunkte darin schon genannt waren. Aber zugegeben wird eben nur, was nicht mehr bestritten werden kann.

 

Machtfrage drei: Die Macht der Machtleugnung

 

Im Bericht der Nordkirche, zehn Jahre alt, steht:

„Das kirchliche Disziplinarrecht ist nicht am Schutz der durch eine Amtspflichtverletzung konkret Betroffenen orientiert, sondern am Schutz des Amtes vor schlechter Ausübung, Missbrauch und Entwürdigung sowie an der Funktionstüchtigkeit des kirchlichen Dienstes. Zweck des kirchlichen Disziplinarrechts ist jedoch weder die Bestrafung des Beschuldigten noch der Schutz der Gemeindeglieder. Zweck ist es vielmehr, die rechte Amtsführung zu fördern und die Funktionsfähigkeit des kirchlichen Dienstes sicherzustellen.“


Die Ignoranz, das eiskalte Abservieren der Missbrauchsopfer hat laut dieser Analyse System. Warum brauchte es noch zehn Jahre und eine mehrere Millionen Euro teure Studie, um offiziell anzuerkennen, dass Betroffene als Störung im kirchlichen Betriebsablauf galten?


Dieses Zitat habe ich auch deshalb herausgesucht, weil hier ein verräterisches Wort zweimal vorkommt: Dienst.

Der Protestantismus ist stolz auf seine intellektuelle Tradition, auf das geschliffene Wort, die geistige Höchstleistung. Bis vor kurzem wurde nur wenig intellektuelle Arbeit darauf verwendet, das Machtgefüge in der evangelischen Kirche zu beschreiben. Vielleicht können Sie mir ein Buch nennen, ich habe keines gefunden, mit dem Titel: Machtausübung in der evangelischen Kirche. Ich bin ein schlichtes Gemüt, habe nun ach Politikwissenschaft studiert, da heißen Bücher: "Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland", darin steht, wie Macht legitimiert, verteilt, kontrolliert wird.

Für Ihre Kirche fehlt ein solches Standardwerk. Dabei wusste schon der Protestant Max Weber: Nur weil ich etwas Dienst nenne, bedeutet das mitnichten, dass keine Herrschaf ausgeübt wird.


Evangelische Intellektuelle merken gern Kritisch-Moralisches zur Machtausübung in der Politik an. Das ist wichtig, keine Frage. Vermutlich leiden sie derzeit darunter, weniger gehört oder gefragt zu werden als vor 20 oder 40 Jahren. 

Wenn nach vielen Jahren geistig-moralischer Arbeit eine Denkschrift veröffentlicht wurde, dann stand da immer: Den Menschen in den Mittelpunkt stellen.


Machtverteilung und Machtausübung zu beschreiben ist weder ein politikwissenschaftliches Hobby noch eine persönliches Freizeitbeschäftigun von mir. Wenn ich den Menschen wirklich in den Mittelpunkt stelle, dann weiß ich: Machtverhältnisse zu beschreiben, das ist existenziell. Wenn Macht wortmächtig geleugnet wird, wenn sie hinter all dem Geklingel von Dienst und demokratischen Strukturen verschwindet, dann nehme ich jenen, die Machtmissbrauch erleben, die Möglichkeit, das zu benennen. Sie haben etwas erlebt, was es gar nicht geben kann.


Dieser Gedanke ist zentral, um den Zusammenhang von Macht und Missbrauch zu verstehen.

Ich sage das in Vorträgen über die römisch-katholische Kirche, ich sage es jetzt Ihnen, einer Kirche, die noch viel mehr auf Redekunst setzt. Bekannte Protestantinnen und Protestanten nutzen diese Macht, um anderen ins Gewissen zu reden. Sie nutzen sie kaum, um die eigene Institution kritisch zu prüfen. Sie haben sie erst Recht nicht genutzt, um Machtmissbrauchsbetroffenen weitere Ohnmachtserfahrungen zu ersparen. Im Gegenteil: Wenn ich in der Forum-Studie die Passagen lese, in denen steht, dass die Opfer ihrer Tätern vergeben sollten, dass dies mit höchster theologischer Kunst gerechtfertigt wurde, dann war dies ein Machtmissbrauch des Wortes.

 

Machtfrage vier: Die Macht des Betroffenheitskitschs


Vielleicht haben Sie sich gewundert, dass ich bisher eher selten das Wort Betroffene benutzt habe. Eigentlich muss das in jeder Wortmeldung zum Missbrauch im ersten Satz schon 25 Mal auftauchen. Katholische Bischöfe und evangelische Bischöf*innen haben diesen Standard gesetzt, gern in Verbindung mit Erschütterung. Erschütterungserschütterung. Erschütterungserschütterungserschütterung.


Betroffene in den Mittelpunkt stellen. An der Seite der Betroffenen stehen. Kulturwandel. Hinsehen. Zuhören. Daraus könnte Jan Böhmermann einen Deutsch-Pop-Song machen, so wie er es damals in seiner ZDF-Sendung mit "Leben-Menschen-Tanzen-Welt" ausprobiert hat. Zuhören, Hinsehen, Menschen, Mittelpunkt - das bleibt Wortgeklingel, solange sich nicht Machtverhältnisse tatsächlich ändern, solange nicht die Macht der Tätererzählung durchbrochen wird.  


Es ist noch nicht so lange her, da durften Betroffene auf EKD-Synoden nicht sprechen. 2018 hielt Bischöfin Kirsten Fehrs auf der Synode eine vielgelobte Rede, die Synodalen schauten ergriffen, offenbar hatten sie bis dahin geglaubt, Missbrauch betreffe ihre Kirche nicht. 2021 wurde der Betroffenenbeirat der EKD aufgelöst oder ausgesetzt, es gab unterschiedliche Aussagen. In der offiziellen EKD-Begründung  hieß es, es gebe im Beirat „interne Konflikte“. Als seien Betroffene schwierige Wesen, unfähig, sich zu organisieren.


Aus der institutionellen Machtperspektive wird verschwiegen, dass Betroffene in ein unmögliches System gezwungen werden, weil auch da Herrschaft ungleich verteilt ist. Betroffenenbeteiligung wird allenfalls gnädig von der Institution gewährt. Als im November 2021 bei der Synode Betroffene vor dem Plenum sprachen und der EKD mangelnden Aufarbeitungswillen vorwarfen, gab es schon wieder entgeisterte Gesichter bei den Synodalen. Einige schauten, als würden sie das zum ersten Mal hören.


Eine Kirche, die sich als öffentliches Gewissen versteht, bringt es kaum fertig,  sich ihrer eigenen Schuldgeschichte zu stellen. Ökumenisch gilt: Dass wir überhaupt etwas über sexualisierte Gewalt wissen, ist allein den Betroffenen zu verdanken. Sie hatten den Mut, ihre Geschichten öffentlich zu machen. Aus freien Stücken hat kein Bischof, keine Bischöfin, kein Chef eines Landeskirchenamtes, kein Pfarrer, kein public protestant intellectual  irgendetwas zugegeben oder aufgearbeitet.


Wie kann das sein, wenn man einen Glauben vertritt, der auf Gewissensbildung pocht? Diese Frage markiert die Fallhöhe, die eine Kirche von Sportvereinen und staatlichen Einrichtungen unterscheidet. Warum fehlt der innere Antrieb, das zu sagen, was war?  


Machtfrage fünf: Die Macht der falschen Dilemmaerzählung


Ich habe keinen Grund, mich aufs hohe moralische Ross zu setzen. Wenn ich alte Texte von mir lese, aus den Jahren 2010 ff., dann sind mir viele heute peinlich. Peinlich naiv. Ich hatte geglaubt, die Kirchen würden „aufarbeiten“, so wie sie das angekündigt haben. Ich habe viel zu lange gebraucht, um halbwegs zu verstehen, was sexualisierte Gewalt für die Betroffenen bedeutet, was sie für mich als Journalistin und Redakteurin bedeutet und was Aufarbeitung für Institutionen bedeutet, die eine derartige moralische Fallhöhe haben wie Kirchen.


Verstanden habe ich es erst dadurch, dass ich einzelnen Fällen, die keine Einzelfälle sind, nachgegangen bin. Viele Menschen haben mir ihre Geschichte erzählt, ich habe viele Schicksale in meinen Notizbüchern,  mehr als ich in meinem Leben erzählen kann und will. Manchmal war es möglich, so tief in die Recherche einzusteigen, dass ich genau nachzeichnen könnte, was auf Seiten der Institution geschehen ist, als die Beschuldigungen bekannt wurde. Ich konnte etwas herausfinden, was die Betroffenen selbst noch nicht wussten.


Man braucht für solche Innenansicht der Institution Whistleblower, interne Papiere, die niemals für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Ich sah in solchen Papieren, wie Bischöfe Betroffene eiskalt abservierten, ihnen sogar drohten. Ich sah, dass sie gleichzeitig Beschuldigte hätschelten. Ich erkannte, dass sie absichtlich die Unwahrheit sagten, wohl wissend, dass sie sich anders als viele Betroffene Anwälte leisten können, die ihre Lügen absichern. Sie hatten dennoch keine Probleme damit, in Talkshows Aufarbeitung zu versprechen. Warum sind diese Mächtigen so?


Aus Konfliktscheuheit, Karrieregeilheit, Kumpanei, weil man den Beschuldigten gut kennt… Vor allem aber: Viele handeln so, weil sie es können. Weil sich niemand in den Weg stellt, der das System des Täterschutzes wirkmächtig durchbricht. Weil man weiß: Vertuschung ist kein Straftatbestand. Tun, was man kann: Das ist Macht. Die gibt es römisch-katholisch, die gibt es evangelisch. Diese Macht führt dazu, dass gerade wegen der moralischen Fallhöhe die Opfer sexualisierter Gewalt gleichgültig werden.


Dass Kinder und Jugendliche egal sind, dass alles andere wichtiger wird, das kann man als Vertreter einer moralischen Instanz niemals öffentlich zugeben. Deshalb wird eine traut-ökomenische Formulierung des Schuldbekenntnisses gewählt: Der Schutz der Institution, so sagen Bischöfinnen und Bischöfe, war wichtiger als der Schutz der Kinder und Jugendlichen.

Das klingt selbstkritisch und zerknirscht. Es ist aber ein konstruiertes Dilemma.


Schädige niemanden, schütze die Schwachen. So lauten zwei einfache ethische Grundsätze. Missbrauch ist eine massive Schädigung. Wer in einer Konstellation von Erwachsenem und Minderjährigen, von Geistlichkeit und Nicht-Geistlichkeit den schwächeren Part hat, ist offenkundig. Die ethische Bewertung von Missbrauch ist also eindeutig, die ethische Bewertung von Vertuschung, also der Nicht-Hilfe für den Schwachen, ist auch eindeutig.


Da ist gar kein Dilemma.


Aber wer sagt schon offen: Mir war die Karriere wichtiger als das Kind? Mir war der Kumpel wichtiger als die Jugendliche? Mir war die Ruhe im Karton wichtiger als das Opfer? Ich habe es zumindest so noch nicht in öffentlichen Schuldbekenntnissen vernommen, obwohl es mutmaßlich ganz nah an der Wirklichkeit ist. Statt dessen sagt man lieber: Schutz der Institution.


Ich weiß, man muss in solchen Runden wir hier immer sagen: Ich kann das gut hören.  Aber ich kann den Satz mit dem Schutz der Instition nicht mehr hören. Er entspricht nicht der Wirklichkeit.

 

Machfrage sechs: Die Macht der Frohen Botschaft

 

Seit ich Abteilungsleiterin bin, besuche ich auch Seminare zu Kommunikation und Gesprächsführung. Sie merken das sicherlich am positiven Drive meines Vortrags.

Gelernt habe ich zum Beispiel: Wenn in einem Mitarbeiter*innengespräch ein Projekt bewertet werden soll, dann sollte ich nicht fragen: War's super oder wars eine Pleite? Besser ist es, um eine Skala zu bitten von 0 bis 10. Wenn mein Gegenüber antwortet: "Dieses Projekt war für mich 3 von 10", dann sollte ich nachfragen: Warum 3 und nicht 1? So nach dem Motto: Irgendetwas Positives gibt es ja doch!


Vermutlich sagen Sie mir gleich in der Diskussion nach diesem Vortrag: "Wir haben doch schon soooo viel gemacht in Sachen Aufarbeitung und Prävention, wir sind doch nicht bei Null. Wir sind auf einem guten Weg. Seien Sie doch nicht so negativ, Frau Florin!

Lassen Sie uns nach vorn schauen, wie soll es weitergehen nach der Forum-Studie. Machen Sie einen Vorschlag, anstatt immer nur zu kritisieren!"

 

Das kann ich nicht. Unsere Recherchen zum Thema Missbrauch sind einem schlichten journalistischen Ideal verpflichtet: Sagen, was war. Sagen, was ist. Anders, als es oft klischeehaft dargestellt wird, geht es nicht darum, Bischofsmützen wie Trophäen an die Wand der Redaktion zu hängen. Oder Talare. Da hängen von evangelischen Bischöfinnen zudem schon einige, ohne dass die Rücktritte der Wahrheitsfindung gedient hätten.

  

Wenn Sie es ehrlich meinen mit den Bekenntnissen zur Aufarbeitung, dann müssten Sie sich gerade jetzt der Vergangenheit zuwenden, dann müssen Sie rekonstruieren, was geschehen ist, in Landeskirchen und in Gemeinden. Dann müssen Sie sagen, wer wann was warum gemacht und vor allem wer wann was zuungunsten der Opfer unterlassen hat. Sie müssten das tun ohne Rücksicht auf große Namen und auf moralische Influencer im Bischofsrang oder Ex-Bischofsrang.


Das klingt natürlich nicht so nach froher Botschaft wie der Zuruf: Nach vorn schauen. Die Forum-Studie implementieren.


Das Wort Aufarbeitung hört sich - wie die meisten Wörter mit -ung - abstrakt und lebensfern an. Meine Erfahrung ist aber eine andere: Für Betroffene ist Aufarbeitung nicht abstrakt. Wenn sie fehlt, fehlt ein Teil ihres Lebens. Durch die Lügen, Relativierungen, Beschwichtigungen kirchlicher Verantwortlicher ohne Verantwortung, durch das Gerede mit Höchstwerten auf der nach oben offenen Erschütterungsskala wird Betroffenen weiterhin ein Teil ihrer Lebensgeschichte vorenthalten oder umgebogen.


Als Kirche können Sie natürlich einen ganz anderen Weg einschlagen: Sie können unsere Recherchen in Zweifel ziehen, sie können die Forum-Studie als Geldverschwendung kritisieren. Sie können auch einfach gar nichts mehr unternehmenen zu diesem "schwierigen Thema". Der Staat wird der evangelischen Kirche nichts abverlangen. Die Basis verlangt auch nichts, jedenfalls habe ich nicht wahrgenommen, dass die Forum-Studie flächendeckend für Empörung, kritische Anfragen oder eine Petition für die Herausgabe der Personalakten an die Forschenden gesorgt hätte. Die Veranstaltungen zum Thema Missbrauch waren auf dem Kirchentag sehr schlecht besucht, es gibt von unten keinen Druck. Die typisch evangelische Reaktion ist übrigens, wenn ich Wörter wie "Basis" und "unten" verwende: Es gibt bei uns keine Basis, weil wir, anders als die Katholiken, keine Spitze haben.


Welchen Weg Sie einschlagen, das ist eine Gewissensfrage.


Da sind Sie als Kirche der Freiheit völlig frei.


Bis 2038 können Sie sich ja wieder Zeit nehmen.

  

Impulsvortrag, gehalten am 4. September 2024 auf Einladung des Bischofs der EKBO, Christian Stäblein.  

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