Martinspredigt, gehalten am 10. November 2024 in der Christuskirche in Recklinghausen
Buch Kohelet
Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:
eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben,
eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen der Pflanzen,
eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen,
eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen,
eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen,
eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz;
eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln,
eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,
eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren,
eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen,
eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen,
eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden,
eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen,
eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.
1. Alles hat seine Zeit - Christentum, leicht entflammbar
Vorweg: Es wird in dieser Predigt auch um die Lüge gehen. Lassen Sie mich nicht lügen: Der Titel dieser Predigt ist mir nicht selbst eingefallen, ich habe ihn beim Kabarettisten Konrad Beikircher geklaut.
Was Sie gehört haben, war eine Stelle aus dem Buch Kohelet, eine sehr berühmte Bibelstelle, hier zitiert aus der Einheitsübersetzung. Deren jüngste Fassung ist 2016 erschienen. Damit sind wir schon mitten im Thema. Der Name „Einheitsübersetzung“ täuscht. Sie werden es wissen, ich sage es trotzdem: Die Einheit ist nicht die von evangelischen und römisch-katholischen Christinnen und Christen, obwohl das der Anspruch dieser Übersetzung war. Die „Einheit“ besteht nur aus den deutschsprachigen römisch-katholischen Bistümern.
Im Jahr 2016 erschien auch die neue Lutherbibel. Da klingt der Text etwas anders, wie Sie gleich hören werden.
DAS Buch der Bücher gibt es also nicht im Singular. DIE Frohe Botschaft auch nicht.
Es gibt viele Übersetzungen, weil man sich nicht auf eine einzige einigen kann.
Es gibt viele Botschaften, weil man sich nicht auf eine einzige einigen kann.
Wenn man es im Namen der frohen Botschaft nicht mehr miteinander aushalten will, gründet man eine eigene Konfession. Im günstigen Fall bestehen Konfessionen nebeneinander her. Im ungünstigsten bekämpfen sie einander bis aufs Blut.
Sie hier in Recklinghausen nennen sich Gastkirche, Sie betonen das Einladende, Solidarische, Gemeinsame. Es ist gut und wichtig, das zu betonen. Denn die kirchliche Welt ist kein gutes Beispiel dafür, wie man mit Überzeugungen, die man nicht teilt, friedlich und produktiv umgehen kann.
„Demokratie braucht Religion“ behauptet ein in bischöflichen Kreisen gern zitierter Essay des Soziologen Hartmut Rosa. Mir fehlt der Beleg dafür, dass religiöse Überzeugungen gerade jetzt dazu beitragen, plurale, liberale Demokratien zu erhalten, zu stützen, zu beleben. Der WDR-Kollege Arnd Henze hat nach der US-Wahl in einem Text für Chrismon sehr gut aufgeschlüsselt, dass weiße christliche Gläubige – katholisch und evangelisch, keineswegs nur evangelikal – stabil Trump die Treue halten, obwohl der, zurückhaltend formuliert, nicht die Botschaft eines menschenfreundlichen Gottes predigt.
Die Entgegnung lautet stets: Das sei ein Missbrauch der Religion, es gehe im Christentum um die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen, um Nächstenliebe, um christliche Soziallehre, um Maß und Mitte. Weiß ich alles. Im Religiösen steckt aber etwas Unbedingtes, Flammendes. „Ich aber sage euch…“
Um Feinde lieben zu können, wie es ein Gebot Jesu formuliert, muss ich erst einmal jemanden zum Feind erklärt haben.
Illiberale und liberale Strömungen in den Religionen sind verfeindet. Die illiberalen christlichen Rechtsgläubigen schließen sich zusammen über Konfessionsgrenzen hinweg. Das ist keine neue Entwicklung, die Liberalen haben in all den Jahren noch immer keine Strategie gegen die Tatsache gefunden, dass Hass mehr verbindet als Gemeinsinn. Bischöfliche Papiere gegen völkischen Nationalismus wirken hilflos, weil sie nicht ansprechen, dass man angesichts der Kirchenmitgliederentwicklung auf die treuen Rechtsgläubigen angewiesen ist. Die Liberalen gehen ja in Scharen.
Es gibt eine politisch äußerst wirksame Ökumene des Hasses zwischen rechten Evangelikalen, rechten Katholiken, rechten Orthodoxen. Die Feindbilder sind dieselben: Islam und Gender. Die großen Emanzipationsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte in liberalen Demokratien – die Frauenbewegung, die Schwulen- und Lesbenbewegung - gelten in dieser Ökumene als dekadent, als Verfallserscheinung.
2. Alles hat seine Zeit – kann ich alles wegatmen?
In der schon angesprochenen Lutherbibel lautet dieselbe Stelle:
„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
Pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;
herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.“
Am auffälligsten: Die römisch-katholische Version spricht vom "Krieg", die Lutherbibel vom "Streit". Die römisch-katholische Version enthält das „Und“, das man trennend oder verbindend lesen kann, die Lutherbibel verzichtet auf diese drei Buchstaben.
Für mich ist das Buch Kohelet einer der herausfordernsten Texte der Bibel, gerade als Journalistin, gerade jetzt. Am Mittwoch der vergangenen Woche ist so viel passiert, das hätte zu Beginn meiner journalistischen Laufbahn für drei Jahre gereicht. Der Text reizt mich zum Widerspruch. Hier wird Gegensätzliches geschmeidig zusammengebracht. Ich frage mich, wie wir das alles zusammenbringen sollen, ohne dass uns die in dieser Bibelstelle so oft bemühte Zeit davonrennt.
Sorry, Kohelet, aber ich muss gerade an Koalitionen denken: Zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit. Nun ja. Die Regierungskoalition ist am Mittwochabend zerrissen. Trotz oder wegen der großer Krisen der Demokratie hat die Naht nicht gehalten. In Sachsen scheiterten am Mittwoch Sondierungsgespräche. In allen drei Bundesländern, die im September gewählt haben, scheint es kaum möglich, Bündnisse zusammenzunähen. Die Ampel hatte sich den Fortschritt über ihren Koalitionsvertrag geschrieben, aber die Partner rannten auf verschiedenen Wegen in verschiedene Richtungen. Jeder machte sein Ding – bis zum Riss.
Wenn ich ehrlich bin – und ich spreche hier in einer Kirche, da muss man ehrlich sein – dann tue ich mich schwer mit dieser Reihung, alles habe seine Zeit. Ich kenne diese demonstrative Gelassenheit aus privaten Debatten und aus Redaktionskonferenzen. Dann klingt das so: Man müsse andere Meinungen stehen lassen. Aushalten. Die gebildeten Stände verwenden das vornehme Wort Ambiguitätstoleranz.
Das Versprechen der Demokratie: Ohne Angst verschieden sein dürfen
Es stimmt: Demokratinnen und Demokraten müssen nicht nur tolerieren, sondern akzeptieren, dass Meinungen verschieden sind. Dass es ein weites Meinungsspektrum gibt. Das nennt man plural. Demokratie heißt: Verschiedenheit, auch unversöhnte Verschiedenheit.
Demokratie ist eine Staatsform und eine Lebensform. Der Autor Max Czollek, eine wichtige Stimme der jüdischen Community in Deutschland, hat vor einigen Monaten in einem Interview im Deutschlandfunk eine sehr schöne Demokratie-Definition formuliert: Demokratie heiße, ohne Angst verschieden sein zu dürfen.
Die parlamentarische Demokratie braucht den Kompromiss und dafür die Zustimmung einer Mehrheit, aber eine liberale Demokratie ist nicht die Diktatur der Mehrheit. Wer nicht zur Mehrheit gehört, muss in einer Demokratie nicht in der Angst leben, diskriminiert, ausgewiesen oder gewaltsam angegriffen zu werden. Demokratische Regierungswechsel sind nicht die Zeit der Rache an den Unterlegenen oder an den bisher Mächtigen.
Auf der Siegerstraße sind seit einigen Jahren politische Kräfte, die Demokratie als Rache-Akt und als Verteilungskampf inszenieren. Wenn wir regieren, so versprechen sie, dann bekommt ihr Zukurzgekommenen, was ihr verdient und die Verlierer der Wahl müssen zittern. Statt einer positiven Zukunftsvorstellung wird das „Früher“ bemüht. Retropien sind verführerischer als Utopien. „Wieder“ heißt das Zauberwort der Retropie. „Make America great AGAIN“. Make Thüringen great again. Das wäre skurril bis harmlos, wenn nicht die Einen great würden, indem sie die Anderen niedermachten. Die Anderen sind zum Beispiel Geflüchtete, Frauen, queere Menschen.
Mich nervt, dass im Buch Kohelet vieles so meditativ dahin strömt, als es sei es ein Leichtes. Wie soll ich das wegatmen: die Zeit zum Steinewerfen, die Zeit zu hassen, zum Töten, Zeit zum Streit, Zeit zum Krieg?
3. Zeit zum Streit - I'm on fire,
Isch habe Puls
Zeit zum Streit. Damit hatte ich bis vor kurzem keine Probleme, im Gegenteil: Ich gelte als streitbar. Aber da hat sich bei mir etwas verändert.
Zeit zum Streit, erstes Beispiel: Den Moment kennen Sie sicherlich auch: Man sitzt mit Freunden zusammen, möchte eigentlich einen netten Abend zu verbringen, dann kommt die Rede auf das Thema Migration. In meinem Fall auf Re-Migration. Die Medien hätten doch dieses angebliche Geheimtreffen in Potsdam völlig überzogen dargestellt, die Correctiv-Recherche sei unsauber, sagt ein Freund. Seine Frau nickt zustimmend. Da sei doch nichts dabei, sich vertraulich zu treffen und die Probleme der Migration anzusprechen.
Das kann ich nicht stehen lassen: Ich erkläre, was Re-Migration bedeutet, wer der nach Potsdam geladene Herr Sellner ist und dass ein Vordenker der Neuen Rechten wohl kaum als informativer Referent verstanden werden kann. Wer sich für ein Geheimtreffen mit diesem Stargast anmeldet, teilt das Konzept, dass Deutsche mehr wert sind als andere, sage ich.
Die Diskussion am Tisch wird heftiger, irgendwann blicken die Umsitzenden hin und her wie beim Tennisspiel. Der Abend ist eigentlich gelaufen. Die Freundin, die ihren Mann unterstützt hat in Sachen Re-Migration, stellt die Frage, ob wir überhaupt noch befreundet sein könnten, wenn wir politisch so weit auseinander seien. Es wird still. Meine Kohelet-gleiche Antwort: Ja, weil Freundschaft mehr ist als Politik. Insgeheim frage ich mich, ob ich beim nächsten Abendessen politische Themen meiden sollte.
Zeit zum Streit, zweites Beispiel: Ich diskutiere oft heftig mit meinem Sohn über Nah-Ost. Er holt sich gern Unterstützung von einer Künstlichen Intelligenz. Die geht auf das ein, was ich sage. Ziemlich beeindruckend übrigens, wie sie spricht. Irgendwann vergesse ich, dass mein Sohn nichts mehr sagt und ich mit einer Computerstimme streite. Ich werde lauter und röter im Gesicht.
Was ich zunächst nicht wusste: Mein Sohn hatte die KI so eingestellt, dass sie emotional werden kann, auch hämisch und polemisch. Dass sie Sätze beginnt mit: „Ach, du glaubst also diese Geschichte vom Schutzraum Israels für Jüdinnen und Juden. Mein Gott, bist du naiv!“
Ich falle darauf rein, entgegne wieder etwas, werde noch röter, noch emotionaler. Ich will sie so besiegen, wie einst der Schachgroßmeister den Schachcomputer.
Horst Schlämmer würde sagen: Isch habe Puls.
Zeit zum Streit, drittes Beispiel: Wie Sie vielleicht wissen, bin ich auch verantwortlich für eine Deutschlandfunk-Sendung namens Streitkultur, das ist ein moderiertes Pro und Contra. Man muss argumentieren, die Meinung begründen, aufeinander eingehen, zuhören, um reagieren zu können. Damit nicht alles aufgefressen wird von einer Dramaturgie des Wettbewerbs, von Sieg und Niederlage, stellt der Moderator/die Moderatorin zum Schluss immer eine Frage von der Sorte: An welches Argument ihres Gegenübers hatten Sie vorher nicht gedacht? Über welches denken Sie jetzt weiter nach? Haben Sie etwas von Ihrem Mitstreiter/Ihrer Mitstreiterin gelernt?
Das ist keine billige Harmonie nach einer Kontroverse, es ist ein Zeichen des Respekts vor einander.
Defekte Debatten
Jetzt würde ich gern sagen: So wie in der Streitkultur, so gehe ich mit Meinungen um, die ich nicht teile. Ich begründe meine Position, werbe um Zustimmung, ich höre zu, wie das Gegenüber um meine Zustimmung wirbt, ich bin bereit, meine Position zu korrigieren. „Defekte Debatten“ heißt ein gerade erschienenes Buch, geschrieben haben es die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach und mein Kollege Korbinian Frenzel. Das Buch kann ich Ihnen empfehlen. Gern würde ich Ihnen sagen: Mit Zuhören, Ernstnehmen, respektvoll bleiben, Aushalten, Agree to disagree beheben wir die Defekte. Wir von den Medien sind die professionellen Reparateure. Doch das sage ich nicht, das sagen auch Frenzel und Reuschenbach nicht. Sie sagen: Es ist kompliziert.
Das Problem liegt wesentlich tiefer als es das Wort „Meinungsspektrum“ erfasst.
„Wie gehen wir um mit….“ Diese Fragen stellen wir uns als Journalistinnen und Journalisten verschärft, seit populistische Erzählungen im politischen Diskurs mächtig geworden sind. Das Wort Populismus klingt erst einmal harmlos. Da steckt Populus drin, Volk. Populismus könnte als Volkes Stimme verstanden werden, vielleicht auch als populär im Sinne von beliebt.
Populistische Konzepte sind nicht harmlos. Sie benutzen die liberale Demokratie, sind aber im Kern illiberal. Populist*innen behaupten zum einen: Es gibt einen einzigen Volkswillen und dem muss zum Durchbruch verholfen werden. Und zum anderen: Es gibt Eliten in der Politik, in der Wirtschaft, in Kultur, in Wissenschaft und Medien, die verhindern, dass dieser Volkswille sich durchsetzt. Das wahre Volk wird von diesen Eliten betrogen, von „Altparteien“, „Systemparteien“, „Systemmedien“, wie es abschätzig heißt. Das mühsame Ringen um Kompromisse angesichts komplexer Probleme, der Schutz von Minderheiten, die Rücksicht auf besonders verletzliche Gruppen - alles Betrug am wahren Volk.
Aus diesem populistischen Konzept entstehen nicht einfach andere Meinungen, es entstehen mit der Zeit andere Welten. Wer der Überzeugung ist, ständig betrogen zu werden von denen da oben, ständig ignoriert zu werden, ständig bevormundet zu werden, wer das Gefühl hat, als Mehrheit von Minderheiten kommandiert zu werden, der oder die lebt in einer anderen Welt als jene, die es wertschätzen, dass die Demokratie eine langsam arbeitende Maschine ist, in der auch kleine, bisher diskriminierte Gruppen auf Gleichberechtigung hoffen dürfen. Die populistische Erzählung befeuert das Gefühl, im einem Unrechtsstaat zu leben, sich wehren zu müssen, immer zu kurz zu kommen, weil sich nicht eins zu eins erfüllt, was die, so die rhetorische Figur, „hart arbeitenden, ganz normal lebenden“ Menschen wollen.
Sankt Martin, die Mantelfabrik und die Unzufriedenheitsbewirtschafter
Ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland kann kein Vermögen bilden, „Wohlstand für alle“, „Kultur für alle“, „Bildung für alle“ mag niemand mehr glaubhaft versprechen. Die Mieten in den Ballungszentren sind hoch, andere Landstriche sind ausgedünnt, dort fährt ein Bus, wenn überhaupt, nur einmal am Tag. Die letzte Kneipe hat zugemacht auf dem Dorf.
Professionelle Unzufriedenheitsbewirtschafter stellen gerade nicht die soziale Frage und suchen nach einer angemessenen Antwort. Sie teilen nicht wie der heute titelgebende Sankt Martin den Mantel. Sie bauen auch keine Mantelfabrik mit fairen Arbeitsbedingungen, damit den Armen wärmer wird.
Sie werfen ein Feuer an und bieten den leicht entflammbaren Unzufriedenen Schuldige an: DIE Migranten, DIE Juden, DIE Transpersonen, DIE, DIE, DIE…. Sie schüren Konflikte zwischen denen die wenig haben und denen, die ein bisschen mehr haben. Wenn DIE weg sind, dann geht es DIR besser. Das ist die Erzählung.
Feuer fangen nicht allein Menschen, die wenig Geld zum Leben haben. Die populistische Erzählung funktioniert auch bei jenen, die sich kulturell enteignet fühlen, weil sie ihren Lebensstil angegriffen sehen – Autofahren, in Urlaub fliegen, Fleischgrillen, ohne Genderstern sprechen.
4. „Es regnet, aber ich glaube es nicht“. Die Lüge als Lagerfeuer
Polarisierung meint also nicht, dass es verschiedene Meinungen gibt. Polarisierung meint: Man kann sich nicht mehr auf ein Minimum an gemeinsamer Wirklichkeit verständigen. Wenn die einen Deutschland als Meinungsdiktatur beschreiben und die anderen als respektable Demokratie, dann differieren nicht die Meinungen, dann lebt man in zwei Welten.
Als Journalistin eines öffentlich-rechtlichen Senders will ich Meinungsvielfalt abbilden. Nur: Wenn jemand fest davon überzeugt ist, dass die Ukraine Russland angegriffen hat, wenn jemand fest davon überzeugt ist, dass DIE Juden sich Corona ausgedacht haben, dann wird dieser jemand mit unserer Berichterstattung immer unzufrieden sein. Wir bieten eine kontroverse Debatte über Waffenlieferungen, wir bieten eine kontroverse Debatte über Masken- und Impfpflicht, aber in diese andere Welt dringen wir nicht vor.
Das Buch Kohelet macht das „Und“ stark. Polarisierungsbewirtschafter erkennen Sie daran, dass sie aus dem „Und“ ein „Entweder-Oder“ machen. Es gibt entweder das eine oder das andere, es gibt kein Drittes, Viertes, Fünftes. Es gibt entweder wir oder die, oben oder unten, Freund oder Feind.
Als Alternative bezeichnet man die Entscheidung zwischen exakt zwei Möglichkeiten. Entweder – oder…. Es ist kein Zufall, dass in den vergangenen Jahren das Wort Alternative eine beachtliche Karriere gemacht hat. In den 1980er Jahren gab es in der Hamburger Bürgerschaft die Grün-Alternative Liste. Im Programm standen alternative Energien, sichtbar wurde ein alternativer Politikstil. Es war mehr als eine Partei, es war eine Haltung. Man ging auf Anti-Atomkraft-Demos, schrotete sein Müsli selbst und batikte wahlweise für den Frieden oder gegen das Waldsterben. Die ersten alternativen Abgeordneten im Deutschen Bundestag strickten und stillten. Sie fuhren Rad statt Dienstwagen und tauschten ihre Volksvertreter alle zwei Jahre aus. Die anderen Parteien lachten darüber. Irgendwann verzichteten die Alternativen aufs Rotieren und blieben wie alle anderen vier Jahre lang sitzen. Im Gegenzug kauften sich die Nicht-Alternativen eine Getreidemühle fürs Frischkornmüsli und CDUler, die zu Studentenzeiten noch jeden Atomkraft-Nein-Danke-Sticker von der Uni-Klotür gekratzt hatten, beschlossen den Ausstieg aus der Kernenergie.
Aus der einstigen Alternative wurde ein common sense.
Zeitsprung: Eurokrise, Finanzkrise. Rettungsschirme wurden aufgespannt, Politiker jonglierten mit Summen, die die meisten von uns nicht als Zahl aufs Papier bringen können, weil wir den Überblick über die Nullen verlieren. Die damalige Bundeskanzlerin erklärte, das müsse man auch gar nicht verstehen, die Politik mit vielen Nullen sei alternativlos. Die Frage: Wie konnte es anders gehen? verschwand für einen Moment aus der Politik.
Mit dem Aufstieg der Populisten ist wieder die Alternative los. In Gestalt einer Partei, die sich Alternative für Deutschland nennt. Sie verspricht nicht etwas Anderes, sie verspricht DAS Andere, den Gegenentwurf. Andere Parteien sind keine Konkurrenten, sie sind Feinde. Sie sollen weg. „Wir sind das Volk“, ruft die AfD. Die da in Berlin und die von den öffentlich-rechtlichen Medien sind Volksverräter.
Dieser Mechanik bedient sich keineswegs nur die AfD. Die CSU zum Beispiel erklärt die Grünen lächelnd zu Feinden. Dass Franz-Josef Strauß auch verbal robust war, entschuldigt da gar nichts. Die Zeiten sind jetzt andere.
Wahr ist, was wirkt
Das Wort Alternative hat auch noch in anderer Hinsicht eine neue Bedeutung bekommen: Am 20. Januar 2017 wurde Donald Trump ins Amt eingeführt, schon bald zeigten Luftaufnahmen von seiner Amtseinführungsfeier, dass diese deutlich spärlicher besucht war als die von Obama. Trumps Sprecher behauptete dennoch, sein Präsident habe die größte Menschenmasse aller Amtseinführungen versammelt, Trumps Beraterin sagte in Talkshow, das sei nicht die Unwahrheit, das seien „Alternative Fakten“.
Dass Politiker sich die Zahlen nach Bedarf zurechtbiegen, gehört zum Geschäft. Das Bemerkenswerte der „Alternativen Fakten“ ist jedoch, dass es keine Rolle spielt, ob etwas stimmt oder nicht, ob man Belege beibringen kann oder nicht. Man nennt das in der Kommunikation „Moore-Paradox“. Der Mustersatz lautet: „Es regnet, aber ich glaube es nicht.“ Der Lügner weiß, dass er lügt. Er sät bewusst Zweifel an dem, was unbestreitbar wahr ist.
„Mut zur Wahrheit“ reklamiert die AfD. „They eat pets“, sagt Trump im Fernsehen.
Ein klassisches journalistisches Mittel sind Faktenchecks, also die Prüfung, ob etwas stimmt. Unsere Kommunikation basiert darauf, dass das, was wir sagen, wahr ist. Dass wir uns schämen, wenn wir beim Lügen erwischt werden. Es nützt aber nichts, nach dem Satz „Es regnet, aber ich glaube es nicht“ die Regenmenge zu messen. Es hat Kamala Harris nichts genützt, dass die Inflationsrate messbar gesunken ist. Fakten gelten in der populistischen Kommunikation als belehrend, als eilitär, schreiben Reuschenbach und Frenzel.
Wenn ich ein Reporterteam losschicke, um zu prüfen, ob Migranten wirklich Haustiere essen, hat Trump schon gewonnen. Dann hat er mir seine Agenda diktiert. Alternative heißt in diesem Sinne: Wenn du sagst, es ist heiß, werde ich sagen: Es ist kalt. Weil du es sagst und weil ich dich verachte. Es nützt auch nichts, dass du ein Thermometer dabei hast, das 35 Grad zeigt. Ich werde trotzdem sagen: Ich glaube es nicht, du hast das Thermometer manipuliert.
Entweder - oder. Entweder Freund oder Feind. Entweder wir oder die. Du oder ich. Wahr ist, was wirkt. Das ist die fundamentale Verschiebung. Trump, so sagten nun viele nach der Wahl, wirke authentisch gerade wegen seiner Lügen.
Die Demokratie bundesdeutscher Bauart ist eine langsam arbeitende Maschine, sie ruckelt und klemmt, geht vor und zurück, es kommt nicht exakt das politische Produkt raus, das sich die einzelnen Beteiligten vorgestellt haben, aber doch eines, mit dem viele etwas anfangen können. Das ist die Sowohl-Als-Auch-Mechanik, das ist das demokratische Versprechen.
Alternative dagegen arbeiten mit einer Entweder-Oder-Mechanik: Sie sagen: Wenn wir am Hebel sind, fackeln wir diesen ganzen Maschinenraum ab. Wir wirken wirklich, wir schaffen was, die anderen labern nur.
Die Angst der Anderen wärmt das Herz der Einen
Was meiner Ansicht nach unterschätzt wird: Hinter dieser politischen Strategie stehen auch massive finanzielle Interessen. Polarisierungsunternehmer sind eben auch Unternehmer. Lüge, Hass und Freund-Feind-Denken entfachen ein Feuer, dass viele wärmt und vielen Angst macht. Zugespitzt gesagt: Die Angst der anderen wärmt das Herz der einen. Wer sich kulturell abgehängt fühlt, freut sich, dass nun endlich das "woke Hollywood" abgestraft wird, wie es AfD-Chefin Alice Weidel in einem Interview im Deutschlandfunk unmittelbar nach der Wahl Trumps formulierte.
Es ist aber nicht das woke Hollywood, das sich fürchten muss. Es sind konkrete Menschen, die überall Angst haben müssen, weil sie die Zielscheibe des Hasses, des Antisemitismus, des Sexismus und des Rassismus sind. Die Anhänger der Populist*innen wiegen sich in der Sicherheit, dass Rachegedanken und Gewaltfantasien immer die Anderen – die vermeintlich Richtigen – treffen und nicht sie selbst.
Der Appell an das Niederste im Menschen, die aggressive Nostalgie – das ist ein einträgliches Geschäftsmodell.
Wie weit sich dieses Feuer hineingefressen hat, zeigt der aktuelle Zustand der Nicht-mehr-Bundesregierung und die Diskussion seit Mittwoch. Die Parteien der Mitte haben sich in einen Überbietungswettbewerb treiben lassen um die härteste Asyl- und Abschiebepolitik. Trotz der Bedrohung der liberalen Demokratie weltweit war es nicht möglich, einen Kompromiss in Fragen der Wirtschafts- und Haushaltspolitik zu finden. Die Wahl Trumps hat der Koalition keinen „Realitätsschock“ verpasst, wie es einige Beobachter zu hoffen gewagt hatten. (etwa hier in dem sehr hörenswerten Gespräch von Anne Will mit Albrecht von Lucke.
5. Und jetzt: Was wärmt?
Weil es ja eine Predigt ist, würde ich gern sagen: Ich habe die Hoffnung, dass wir da bald wieder herausfinden. Dass liberale Demokratien ihr großes Versprechen erfüllen können. Garniert mit einem schönen Bibel-Kalenderspruch. Hassen hatte seine Zeit, lieben wird wieder seine Zeit haben, weinen hat seine Zeit, lachen wird seine Zeit haben. Und in sechs Wochen ist Weihnachten inklusive Bescherung.
Klingt toll, ist aber in dieser Verkürzung gefährlich: Wer nicht zwischen Lüge und Wirklichkeit, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Kritik und Diffamierung unterscheiden will, ist falsch in unserem Beruf. Ich mache mich gemein mit der grundsätzlichen und grundgesetzlichen Vorstellung der Gleichheit aller Menschen. Gerade deshalb kann ich nicht populistische und extremistische Parteien genauso behandeln wie demokratisch gesinnte. Ich höre jetzt schon das zynische Lachen der libertären Drübersteher über so viel – früher sagte man – linksgrün-versifftes Gutmenschentum und politische Korrektheit.
Der Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky schrieb 1930: „Und wenn alles vorüber ist…. Wenn diese Zeitkrankheit vergangen ist, die die niedrigen Eigenschaften des Menschen zu guten umlügt, wenn die Leute zwar nicht klüger, aber müder geworden sind, wenn alle Kämpfe um den Faschismus ausgekämpft und wenn die letzten freiheitlichen Emigranten dahingeschieden sind -: dann wird es eines Tages wieder sehr modern werden, liberal zu sein.“
Mir fehlt – im Wissen um das, was 1930 folgte – die Gelassenheit, um zu sagen: Ach, wenn wir erst die Zeit des Hasses, der Zerstörung, der Lüge durchstehen, dann wird es besser. We shall overcome some day. Das will ich glauben, das will ich hoffen, aber meine We-shall-overcome-Gitarre steht in Flammen. Was ist, wenn dieser Day in ganz weite Ferne rückt?
Ich will mir nicht von den Trumps dieser Welt diktieren lassen, was ich über wen zu denken habe. Ich will nicht, dass Menschen in Angst leben, weil sie als Feind markiert und einer Willkür des Hasses ausgesetzt sind. Ich will mich nicht an die Zerstörung, an die Lüge, an die Abwertung humaner Werte gewöhnen. Mich wärmt dieses kulturkriegerische Feuer nicht.
Was wärmt stattdessen? Gemeinsam Nachdenken über Gemeinsames, Orte der Verbundenheit, der Solidarität und des Gemeinsinns schaffen und stärken. Wie hier, heute Abend mit Ihnen.
Mir ist dennoch ziemlich kalt an diesem Martinstag.
Danke fürs Mitdenken.
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